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„Und hier sind die Schlüssel“

PROJEKT Erst clean und schuldenfrei werden, dann eine Wohnung? Der „Housing First“- Ansatz, Ende der 1980er-Jahre in New York entwickelt, dreht dieses Prinzip um. Die einzige Bedingung, die die Klienten erfüllen müssen: Sie dürfen dort, wo sie wohnen, niemanden belästigen. Ein Besuch beim Projekt „Discus“ in Amsterdam

VON TOBIAS MÜLLER

Und dann ging Marcel Goedhart. „Fragen, bevor ich nach draußen darf? Das funktioniert für mich nicht.“ Nach acht Monaten in einer etablierten Entzugsklinik hatte er ein Einsehen und brach seine Therapie ab. Und noch etwas war ihm klar geworden: Auch in das Auffang-Haus für Drogenabhängige, wo er zuvor untergebracht war, wollte er nicht mehr zurück. „Es wurde einfach zu viel konsumiert dort“, sagt Marcel Goedhart, der just von seiner Kokainsucht loskommen wollte. Was bleibt in so einem Fall? Die Straße, natürlich.

Eine Alternative tauchte nach vier Jahren auf. Jemand vermittelte ihn an eine Organisation namens HVO-Querido. Spezialisiert auf Menschen in besonders prekären Umständen, Ziel: diese wieder am gesellschaftlichen Leben teilhaben zu lassen. Ein Intake-Gespräch, wieder einmal. Doch dieses war anders, denn am Ende des Treffens hatte Marcel Goedhart eine Wohnung. „Ich wurde eingeladen, und dann bekam ich die Schlüssel. Ohne dass ich erst clean werden musste. Das hatte ich nicht erwartet.“

Wenn er von diesem Moment erzählt, legt sich ein breites Lachen über das Gesicht, das jünger aussieht als seine 40 Jahre. „Da wurde mir ganz warm von innen.“

Drei Jahre später sitzt Marcel Goedhart in seiner Wohnung im Süden Amsterdams. Eine einfache Gegend, kleine Straßen mit schmucklosen Häusern, die bei den Spielen von 1928 zum olympischen Dorf gehörten. Pragmatisch ist auch die Wohnzimmer- Einrichtung: kahle Wände, ein tiefer Tisch in der Mitte und einer an der Wand, auf dem CDs liegen. Auf einem der beiden Sessel hat Lazee Platz genommen, ein Old English Bulldog mit eindrucksvollen Lefzen, den Goedhart als Welpen aus dem Tierheim holte. Beinahe zärtlich schaut er sein Herrchen an.

Goedhart sieht man trotz seines weiten Pullovers den früheren Kickboxer an. Mit dem Sport war Schluss, als er wegen Drogenkonsums gesperrt wurde. Als junger Mann lebte er, der früher selbst in der Pflege arbeitete, schon einmal auf der Straße. Dass er wieder dort landete, begann damit, dass sein Freund nach zwölf Jahren Beziehung starb. „Drei Monate später war ich auf Coke.“ Letzteres warf er eines Tages kurz entschlossen in die Toilette. Seither raucht er nur noch Gras.

Um die Wohnung zu bekommen, muss Goedhart die Aufsicht über sein Budget abtreten. Das fällt ihm nicht schwer: Er steht ohnehin unter Kuratel und nimmt an einem Programm zur Schuldensanierung teil – drei Jahre, in denen ein externer Betrieb dafür sorgt, dass seine Sozialhilfe für laufende Kosten und Schuldendienst verwendet werden. 50 Euro in der Woche bleiben zum Leben übrig. Nach drei Jahren werden die Schulden getilgt. Marcel Goedhart will dann zu seiner Familie nach Surinam.

So wie er haben inzwischen 180 frühere Obdachlose eine Wohnung in der niederländischen Hauptstadt bekommen. 2006 begann HVO-Querido unter dem Namen Discus an der Umsetzung des Prinzips „Housing First“. „Die Idee“, sagt Discus- Teammanager Wessel de Vries, „kommt aus New York. Ende der 1980er-Jahre galt unter George Bush senior das Prinzip ‚Jobs First‘: Wenn jeder eine Arbeit hat, ergibt sich der Rest schon. Eine Wohlfahrtsorganisation leitete daraus ab, Obdachlosen erst einmal ein eigenes Dach über dem Kopf zu besorgen und dann die übrigen Probleme anzugehen.“

Bei der Wohnungsbaugesellschaft Alliantie, wo Wessel de Vries damals arbeitete, wurde der Ansatz zehn Jahre später nach dem New-York-Besuch eines Mitarbeiters bekannt. Die ursprünglich sozialistische Alliantie wollte ohnehin „im Souterrain des Wohnungsmarkts“ aktiv werden. Also nahm man Kontakt mit der Stadtverwaltung, HVO-Querido und einer psychosozialen Hilfsorganisation auf. 2005 wurde die Sache konkret: Man mietete von den anderen Sozialbau-Gesellschaften 26 Wohnungen an. „Für das prekärste Klientel“, so Wessel de Vries, und erläutert: „Doppeldiagnose, abhängig und psychische Probleme.“

Mit dem städtischen Gesundheitsdienst traf man Vereinbarungen zur Betreuung der „Kunden“, wie es bei Discus bis heute heißt. „Wir nennen das Bolero- Prinzip: Es beginnt mit einer Melodie, von einem Instrument gespielt. Wenn das funktioniert, kommen langsam die anderen dazu. Das Gegenteil wäre Beethovens Fünfte: Alles beginnt auf einen Schlag, was eine sehr straffe Regie erfordert.“

De Vries, 56, sitzt in einem der drei Büros, die Discus inzwischen hat. Er trägt ein weißes Hemd, Jeans und halblanges, gewelltes Haar, eine Mischung aus Chic und Lässigkeit. Seine Arbeit erläutert er gerne mit Film- und Musikzitaten. „Stairway to Housing“ nennt er den alten Ansatz: „Obdachlose müssen erst in einen Nachtauffang, dann 24 Stunden-Auffang, betreutes Wohnen, und für eine Wohnung muss man drogenfrei sein und finanziell gesund.“ Und der Ansatz von Discus, Intake-Gespräch mit anschließender Schlüsselübergabe? De Vries beugt sich vor, versucht eine Marlon-Brando-Stimme und raunt: „I’m gonna make him an offer he can’t refuse.“

Natürlich, so de Vries, könnten Mitarbeiter einen Kandidaten auch ablehnen, wenn dieser nicht begreife, dass er für seine Wohnung auch Verantwortung trage, doch das komme so gut wie nie vor. Er betont, dass die Vertragsunterzeichnung auch den wöchentlichen Hausbesuch eines Betreuers einschließe, mehr Hilfe ist optional möglich. Und schließlich ist da die Bedingung, im neuen Zuhause für keinerlei Ärger zu sorgen. „Du kannst psychische Probleme haben, du kannst völlig verrückt sein, du kannst Drogen nehmen, okay. Das können alle Anderen auch. Aber man darf bei Discus niemanden belästigen.“

2012 ließ Discus eine Evaluierung durchführen. 123 Bewohner wurden interviewt, 91 Prozent sagten, ihre Lebensbedingungen hätten sich seither verbessert, 89 Prozent sahen durch die eigene Wohnung allgemein mehr Lebensqualität.

Zudem hat Discus den Kostenfaktor auf seiner Seite: mit jährlich 21.000 Euro pro Kunde, rechnet der Teammanager vor, sei das Projekt billiger als die Unterbringung in einem Obdachlosenheim – ein enormer Vorteil in Zeiten, da etwa Mitarbeiter des städtischen Gesundheitsdienstes ständig mehr Klienten bekämen und das staatliche Budget für langfristige Pflege, aus dem Discus finanziert wird, nicht mehr sakrosankt ist.

Vier andere europäische Städte haben bisher Erfahrung mit dem Prinzip „Housing First“ gesammelt: Lissabon, Glasgow, Budapest und Kopenhagen. Wessel de Vries sieht die Arbeit von Discus auch in der Tradition des niederländischen sozialen Wohnungsbaus: „Demnach haben alle Recht auf eigenen Wohnraum, und zwar mit Qualität. Darum hat jede Discus-Wohnung eine Basis-Einrichtung: Teppich, Vorhänge oder Rollos, ein Ikea-Sofa, eine brandsichere Matratze und ein Feuermelder, falls jemand mit Kippe ins Bett geht.“

Die Bürotür geht auf. Eine Kundin tritt ein, groß, schlanke Gestalt, olivgrüne Jacke und Hose, wache blaue Augen. Joss heißt sie, ihren Nachnamen behält sie lieber für sich. „Hi Schatz“, sagt sie zu der Frau, die hinter einem Computer sitzt. „Tag, Liebchen“ sagt Ilonka Jap-Sam, die früher Joss’ Betreuerin war. Der freundschaftliche Draht, den die beiden haben, sei nicht alltäglich, betont Ilonka Jap- Sam. Und doch liegt darin etwas sehr Prinzipielles, denn mit wem man auch spricht bei Discus, man stößt immer wieder auf ein Wort: Gleichwertigkeit.

Was ein Grund dafür ist, dass der Ansatz auch Joss überzeugt, die auf eine „Suchtvergangenheit, seit ich zwölf war“ zurückblickt. Ende der 1970er kam sie aus der Provinz nach Amsterdam: „In Amsterdam eine Wohnung zu bekommen, ist nicht leicht. Du hast jahrelange Wartelisten, da wirst du nicht fröhlich von. Auf Orte wie die Heilsarmee habe ich keine Lust. Und Discus sind die Einzigen, die sich trauen, uns eine Wohnung zu geben.“

Joss setzt Kaffee auf und bringt allen Anwesenden eine Tasse. Sie selbst trinkt aus einem großen Saftglas. In gewisser Weise ist die eloquente 55-Jährige auch eine Botschafterin des Projekts. Denn wenn sie vor Studenten Vorträge hält über das Leben mit Drogen und Abhängigkeit, erzählt sie auch von Discus. Dank der Betreuung kann sie nun ihrem alten Problem zu Leibe rücken: der Briefkastenphobie. „Ich leide darunter schon sehr lange. Ich habe Angst vor Zahlungsaufforderungen. Nach so etwas guckst du nicht, wenn du ein Leben hattest wie wir. Absprachen und Sucht, das ist keine glückliche Kombination.“

Ilonka Jap- Sam nimmt sich unterdessen den Stapel Briefe vor, den Joss soeben aus ihrer Tasche gezogen hat. Auch von den berüchtigten blauen Umschläge des Finanzamts sind einige darunter. Sogleich klemmt sie sich den Telefonhörer zwischen Kopf und Schulter und beginnt energisch, den Sachen auf den Grund zu gehen.

„Bei Discus will ich nie mehr weg“, sagt Joss. „Höchstens in eine ebenerdige Wohnung, wenn ich einmal alt bin.“

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