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Halbgott in Weiß – und ein wenig Matsch

Der Landarzt ist die dienstälteste deutsche Mediziner-Serie. Auch in der 200. Folge (19.45 Uhr, ZDF) geht es um kleine Gebrechen im heimeligen Norden

„Der Landarzt“ war der Prototyp einer neuen deutschen TV-Welle, die Rückkehr in die 50er

von Jan Freitag

Die Schlei ist ein prächtiges Stück Schleswig-Holstein. Aus der Vogelperspektive wirkt der 42 Kilometer lange Fluss sogar noch schöner. Ein idyllisches Fleckchen Wasser zwischen Auen, Feldern, Seen samt pittoresken Kleinstädten. Und wer im ZDF auch nur einmal „Der Landarzt“ sieht, kriegt die Ostseelandschaft gleich im Dutzend von oben geliefert. Die Urlaubsregion wie im Hochglanzkatalog, dazu die berühmte Titelmelodie mit Mundharmonika – feinste Eigenwerbung also, die Fremdenverkehrsämter lieben Deutschlands dienstälteste Mediziner-Serie.

Ob Sie sich das auch was kosten lassen? Wie damals, als die Tourismus-Agentur des „Landes zwischen den Meeren“ tief in die Tasche gegriffen haben soll, um das benachbarte Schloss Glücksburg für die reaktionäre Blaublut-Saga „Der Fürst und das Mädchen“ permanent in die Totale zu rücken? Berit Teschner schüttelt eher schüchtern als offensiv den Kopf. Nein, nein, beteuert die zuständige ZDF-Redakteurin, Geld sei für die Postkartenansichten der Drehorte nicht geflossen. „Viel zu heikel nach dem Schleichwerbungsskandal.“

Und irgendwie auch unnötig. Mit durchschnittlich fünf Millionen Zuschauern ist „Der Landarzt“ für Reklame- wie für Hotelbetreibende auch nach 20 Jahren ein Zugpferd – zumindest in der Zielgruppe 60 plus –, auch wenn zu Beginn fast dreimal mehr Menschen am Freitagabend eingeschaltet hatten. Damals, als die Privatsender noch in den Startlöchern steckten, als der norddeutscheste aller Ministerpräsidenten, Björn Engholm, eine Gastrolle hatte, von Ärztemangel auf dem Land noch keine Rede war und Deekelsen nur ein heimeliger Ort im Norden, den niemand kannte.

Wie auch – Deekelsen ist ein Phantasieprodukt, eine Vision, von trendbewussten Fernsehmachern geschaffen für den Traum von restaurierter deutscher Heimat, wie er in hektischen, postmodernen Zeiten gern geträumt wird. Und doch existiert Deekelsen – als Entwurzelungscode. „Deekelsen ist nicht die Welt“, sagt der Landarzt einmal, „Deekelsen ist eher ein Paradies mit kleinen Schönheitsfehlern.“ Warum seine Erfinder den Namen des Hauptdrehortes Kappeln ausgetauscht haben, ist dennoch offen. Vielleicht ja, weil die Realität darin so was von irreal daherkommt, dass dem Gemisch aus heiler Welt, komprimierten Alltagsproblemchen, unbefleckter Natur und stereotypen Landbewohnern nur eine Kunstbezeichnung gerecht werden kann. Also steht die rustikale Fachwerkpraxis der ebenso derben Hauptfigur eben in Deekelsen.

Auch die heutige Folge Nummer 200, in der es wie so oft um Altersgebrechen (die Augen), Technikschwierigkeiten (der Praxis-PC) und Beziehungssorgen („Bin ich noch schön?“) geht, steht im Zeichen des Eskapismus. Und der hatte seinen Ursprung nicht ohne Grund Mitte der Achtziger, denn die „geistig-moralische Wende“ hatte auf dem Bildschirm nicht recht gegriffen. Mit dem Aufstieg der Privatsender quoll das Programm über vor US-Importen wie „Denver-Clan“, „Ein Colt für alle Fälle“ und „Magnum“. Eine quietschbunte Seifenwelt dominierte das deutsche Fernsehen, und als die Kritik daran immer lauter wurde, kehrten die deutschen Serien tatsächlich zurück – bodenständig, glückselig, bisweilen heiter und vor allem weniger sozialkritisch als die aufwieglerische „Lindenstraße“ im Ersten.

„Der Landarzt“ war der Prototyp dieser neuen deutschen Welle, die auch im musikalischen Mainstream für Erbauung sorgte. Ein Format, das die Bedürfnisse der Fünfzigerjahre widerzuspiegeln schien, nur dass die Protagonisten ihre Partner wechseln und auch mal „Scheiße“ sagen durften. Es war die Geburt der Heimatserie schlechthin, und für die Bücher sorgte mit Herbert Lichtenfeld jener Autor, der seit 1985 auch die Schwarzwaldklinik schrieb. Städter ließen sich die Leerstelle ihres Geborgenheitsbedürfnisses fortan von einem gemütlichen Dorfmediziner heilen, der Provinz verpasste die ARD zeitgleich eine Metropolenpraxis am Bülowbogen in Berlin-Charlottenburg.

In beiden Fällen aber bildeten die Halbgötter in Weiß mal wieder das verlässliche Bollwerk gegen die kleineren Unwägbarkeiten des Daseins. Bald folgten Forsthäuser, Bergdoktoren oder Hochzeitsshows, später Daily Soaps und heutzutage Telenovelas. Sie alle lindern Otto Normalverbrauchers Sorgen, Happy End inklusive. „Es gibt zwei große Sehnsüchte: Geborgenheit und Freiheit. Meistens beides zusammen“, philosophiert der zweite Landarzt-Darsteller Walter Plathe in einer Folge. Das Wesen der Serie kennzeichnet aber ein Wort dazwischen: „Leider!“ Als seien es Gegensätze.

Allerdings: Anders als die Heimatfilmkultur der verlängerten Nachkriegszeit und die anschließende Klamaukwelle kümmerte sich „Der Landarzt“, zunächst in Gestalt von Christian Quadflieg, nicht nur um ein paar seichte Liebesverwicklungen, sondern um echte Alltagskatastrophen und mögliche Lösungsansätze. Zum Jubiläum kursiert ein Trailer über die ersten beiden Jahrzehnte und ZDF-Hauptredaktionsleiter Klaus Bassiner kommentierte ihn mit: „Ich dachte gerade, das sei ein Ausschnitt von der Autobahnpolizei.“

So weit ist es noch nicht – zu wenig Werbung, zu seltene Schnitte, zu verdeckter Kommerz, zu stille Momente. Wer sich allerdings die ersten 199 Folgen in Erinnerung ruft, stößt auf eine stattliche Zahl havarierender Kraftfahrzeuge und blutender Unfallopfer. Dazu alternative Lebenswege, fiese Bauernfänger, sichtbarer Sex und eine Hauptfigur, die nach 40 Folgen nicht in die Stadt abwandert, sondern von einem riesigen Felsen an der Steilküste erschlagen wird und somit Platz für ihren Nachfolger Dr. Ulrich Teschner (Walter Plathe) macht. Im Zentrum aber steht stets das Familienleben. Und natürlich Norddeutschland, besonders die Gegend zwischen Flensburg, Strand und Eckernförde. „Familienserie mit Arztanschluss“, nennt Produzent Joachim Mendig sein Produkt und betont, damit sei noch lange nicht Schluss.

Die norddeutsche Gastronomie und Hotellerie ihrerseits dürfen sich weiter über eine freitägliche Imagekampagne freuen. Ob kostenlos oder nicht.

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