piwik no script img

Tag der Armut

Der 1. Mai ist nicht mehr der Tag der arbeitenden Proletarier – heute gehen die „Prekären“ auf die Straße. Wer ist das? Und was wollen sie?

Das sind die Prekären

VON FELIX LEE

Europa hat einen neuen Heiligen. Zugegeben: In Deutschland hat er noch wenige Anhänger. In Hamburg wird er an diesem 1. Mai zum zweiten Mal seine Runden drehen. In Berlin hat er am Montag Premiere. Europaweit wird er immerhin schon in über 20 Städten verehrt. Die Rede ist vom San Precario.

Bekannt ist er hierzulande nicht. Noch nicht. Seine Anhängerschaft könnte jedoch rasant wachsen. Denn wofür er steht, spricht viele an. Von einer neuen Bewegung der „Prekarisierten“ ist bereits die Rede.

„Prekarisierung“ – ein umständliches Wort. Das war der Begriff Proletariat aber auch mal. Prekarisierung leitet sich ab von „prekär“ und beschreibt die Situation von immer mehr Menschen, die in unsicheren Lebensverhältnissen stecken. Gemeint sind nicht nur die Lidl-Verkäuferinnen, Ein-Euro-Jobber oder ALG-II-Bezieher. In prekären Verhältnissen sehen sich auch diejenigen, denen von klein auf eingebläut wurde, ihnen wird es immer gut gehen: Heute sind sie Studenten, Dauerpraktikanten und andere arbeitswillige und moderne Tagelöhner.

Eine Generation strebt auf den Arbeitsmarkt, die in gut situierten Verhältnissen aufgewachsen ist und von ihren Eltern mitgeteilt bekommen hat: Wenn ihr nur wollt, dann schafft ihr es auch. Junge Erwachsene, die die Genüsse des Sozialstaats noch vage in Erinnerung haben, nach Abschluss ihres Studiums sich jedoch von Praktikum zu Praktikum hangeln, nach elf Stationen trotzdem keinen Job finden. Und wenn ja, dann nur befristet oder ganz ohne Vertrag. Wiederum andere, die auch mit mehreren Arbeitsverhältnissen gleichzeitig ihren Lebensunterhalt kaum finanzieren können. Zugleich wird ihnen abverlangt, immer flexibel zu sein. Lächeln sollen sie bei der Arbeit auch.

Der Homo precarius ist vom Typus Mensch, dem die Debatten um Rente, Gesundheit oder Eigenheimzulage einerlei ist, weil er sich ohne regelmäßiges Einkommen keinen langfristig ausgerichteten Finanzplan aufzubürden traut. „Nichts ist mehr sicher“ lautet das Motto des Prekarisierten. Aufs prekäre Arbeitsverhältnis folgt die prekäre Existenz. Und das für immer.

Menschen, die unter prekären Lebensbedingungen leiden, gibt es natürlich schon lange. Den Protest dazu auch. Ob die Prekarisierten eine eigenständige Bewegung bilden oder bloß ein Schulterschluss aus Globalisierungskritikern, Mittelstandslinken und High-Tech-Selbstständigen ist, die seit dem Niedergang des New-Economy-Booms auch nicht mehr in irgendwelchen Hinterhofhäusern vor sich hin wurschteln, sondern nur noch in ihrem 15-Quadratmeter-Zimmer – das bleibt dahingestellt. Von der Grillwürstchenkultur ostdeutscher Arbeitsloser, die 2004 jeden Montag gegen Hartz IV auf die Straße zogen, unterscheiden sie sich jedoch. Und auch mit dem ritualisierten Gewerkschaftsprotest können sie nur wenig anfangen. Beide Milieus sind ihnen fremd.

Stattdessen solidarisiert sich der Prekarisierte mit Illegalisierten – nicht nur der Stellvertreterpolitik wegen, sondern weil er in den unsicheren Lebensverhältnissen von Flüchtlingen die extremste Form der Prekarisierung wiedererkennt.

Die Ausdrucksform der Prekarisierten ist blumiger, gefühlsbetonter und kitschiger als das, was es bisher an Protestformen gab. Auf den Aufrufplakaten der Mayday-Paraden trägt der eine Prekarisierte ein Wischmob über der Schultern, der andere haut mit einer Computertastatur um sich. Wie ein Kämpfer mit erhobener Faust tritt San Precario zumindest nicht auf. Er trägt einen Heiligenschein.

Das ist die Protestbewegung

AUS ROM MICHAEL BRAUN

60.000? 80.000? Wie viele Leute am Montagnachmittag in Mailand zur Euro MayDay Parade stoßen werden, weiß noch niemand. Sicher aber ist: Die drei großen Gewerkschaftsbünde CGIL, CISL und UIL werden wieder allen Grund haben, voller Neid auf die Alternativveranstaltung der „Prekären“, der Zeit-, Leih- und Gelegenheitsarbeiter, der Scheinselbstständigen, der ewigen Praktikanten und Honorarkräfte zu schauen. Publikum erreichen die drei Bünde eigentlich nur noch in Rom, wo jedes Jahr am 1. Mai an die 500.000 Jugendliche zusammenströmen. Die aber finden nicht etwa die Gewerkschaft hip, sondern das von den Bünden organisierte Mega-Popkonzert.

Bloß als „unpolitische Musikkonsumenten“ würden da die Leute abgefertigt, meinen die Mailänder Mayday-Organisatoren. Es waren lockere Gruppen von Prekären, dazu linke Basisgewerkschafter und Leute aus den Autonomen Zentren Mailands, die im Jahr 2001 zum ersten Mal eine Mayday Parade machten, am Nachmittag, weil es ihnen nicht um direkte Konkurrenz zu den offiziellen Gewerkschaften ging, die traditionell am Vormittag ihre Kundgebung veranstalten.

Aber eine klare Alternative zum alten Gewerkschaftsritual sollte der Mayday der Prekären schon sein. Statt dröhnender Reden gibt es einen Zug, der „Cyberpink spricht“, so Erfinder Alex Foti: ein bisschen Love Parade, mit Karren, von denen Musik dröhnt, dazu aber auch Protestaktionen vor WalMart- und Auchan-Märkten oder Adecco-Zeitarbeitsfilialen. Und überall ist natürlich das Heiligenbild von „San Precario“ präsent, dem Schutzpatron der Bewegung.

Als nicht ganz ernst zu nehmende Spaßvögel wollen die Euro-Mayday-Organisatoren aber nicht durchgehen. Foti sagt, es gehe darum, „gewerkschaftliche Agitation und kommunikative Aktion zu verschmelzen. Wir sind die Handy-, Internet- und MTV-Generation. Das marxistische Vokabular erreicht ja nicht einmal mehr die Getreuen. Also greifen wir zu einer Pop-Sprache, um gesellschaftliche Radikalität freizusetzen.“

Radikal anders soll selbstverständlich vor allem die Situation der „Prekären“ werden: „Flexicurity“ statt Unsicherheit. Ganz oben auf der Forderungsliste stehen Grundsicherung für alle, Mindestlöhne für die Beschäftigten, bezahlter Urlaub, bezahlte Mutterschaftszeiten und Gewerkschaftsrechte auch für diejenigen, die nicht fest angestellt, sondern eben in „flexiblen“ Beschäftigungsverhältnissen sind. Aber auch für die Schließung aller Abschiebelager, für „Schutz der THC-Konsumenten“, und schließlich, mit Blick aufs Internet, für „free upload, free download“ machen sich die San-Precario-Jünger stark.

Und dieses Jahr „spricht die Bewegung natürlich Französisch“, wie die Website der italienischen „Chainworkers“ verkündet. In Paris hoffen die Mayday-Organisatoren auf zehntausende Teilnehmer, aber auch in den 19 anderen europäischen Städten von Sevilla und Barcelona bis Helsinki und Hamburg, in denen Mayday-Paraden laufen, wird der jüngste Sieg der französischen Bewegung gegen den CPE, den Vertrag zur Ersteinstellung, für Zulauf sorgen.

Das fürchtet die Mittelschicht

VON BARBARA DRIBBUSCH

„Prekarität“ – der Begriff ist das neue Befindlichkeitsmotto der Mittelschichtmilieus. Doch wie schlecht geht es der Mittelschicht wirklich? Oder jammern gerade die akademischen Milieus nur auf hohem Niveau herum? Um die Frage zu beantworten, muss man sich die Dynamik von Unsicherheitsgefühlen genauer anschauen. Und die ist höchst real.

Was die Empirie betrifft, so ist die Arbeitslosigkeit unter Akademikern zwar nicht gestiegen. Die Arbeitslosenquote unter AkademikerInnen bewegte sich schon vor zwanzig Jahren um die 4 Prozent. Eine Studie des Soziologen Olaf Groh-Samberg, die in den gewerkschaftseigenen WSI-Mitteilungen veröffentlicht wurde, kommt sogar zu dem Schluss, dass die soziale Mobilität der mittleren Einkommensgruppen nach unten zwischen 1984 und 2004 nicht gestiegen, sondern zurückgegangen ist.

Groh-Samberg bildete eine Gruppe der „Prekarisierten“, worunter Leute fielen, die zwischen Durchschnittseinkommen und Einkünften knapp über der Armutsschwelle pendelten. Diese Gruppe wurde in den vergangenen zwanzig Jahren kleiner, während die dauerhafte Armut wuchs. „Die Armut wächst quasi von unten nach oben und nicht in Gestalt eines zunehmenden bröckelnden Wohlstands“, so Groh-Samberg.

Obwohl die Gefahr, nach unten abzustürzen, gerade für die akademischen Mittelschichten also nicht in breitem Maße gewachsen ist, greift das Gefühl von „Vulnerabilität“, von Verwundbarkeit, gerade in diesen Milieus um sich.

Hauptursache für diese Stimmung ist der Wegfall von alten Sicherheiten, der die Risiken etwa von Arbeitslosigkeit und Krankheit mehr auf die Individuen verlagert. Diese Individualisierung erzeugt das Gefühl von Prekarität.

Der Verlust von Schutz ist nachweisbar: So finden immer weniger Leute Sicherheit in kündigungsgeschützten, sozialversicherungspflichtigen Vollzeitjobs, denn die Zahl dieser Stellen sinkt. Auch arbeitslosen Akademikern bleibt oft nur der Ausweg in das Kleinunternehmertum, sie sind damit individuell den Marktrisiken ausgesetzt. Absolventen auch vermeintlich jobsicherer Studiengänge wie den Wirtschaftswissenschaften stehen nach den Abschlüssen oft nur Praktika offen.

Die Verwundbarkeit ist auch körperlich zu spüren. Wer heute kein halbes Monatsnettogehalt mehr für die Eigenbeteiligung am Zahnersatz aufbringen kann, muss mit der neuen Brücke eben warten.

Die Dynamik der Medien verstärkt die Ängste: Einzelfälle werden wegen ihrer Dramatik ausgewählt, erscheinen dem Publikum dann aber als Parabel für kollektive Schicksale. Dabei orientieren sich die Medien schon aus ökonomischen Interessen an der Gefühlslage eines finanzkräftigeren Mittelschichtspublikums.

Tausende schlecht Qualifizierte mit Bandscheibenproblemen kommen in der Berichterstattung kaum vor. Ein 50-jähriger Elektroingenieur, der wegen Hartz IV sein Haus verkaufen musste, schafft es hingegen auf die Titelseiten.

Wie gefährdet sich die Mittelschicht auch fühlt: Den Unterschichten geht es garantiert noch schlechter. Trotzdem hat die Rede von der „Prekarität“ der Mitte eine stützende Funktion. Damit werden Einzelschicksale als Kollektivschicksal begriffen und eine vermeintlich homogene Mittelschicht vorgegaukelt. Das erleichtert. Da gemeinsame Widerstandsaktionen in einer individualisierten Gesellschaft so schwierig sind, ist die Symbolik der „Prekären“ vielleicht die einzige kollektive Entlastung, die derzeit für die Mitte möglich ist.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen