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„Bis er zusammenbricht“

SCHACH-WM Kaum einer glaubt an den Titelverteidiger. Herausforderer Carlsen scheint übermächtig

VON HARTMUT METZ

Magnus Carlsen fläzt sich gerne auf den Stuhl. Geradezu schläfrig und leidenschaftslos wirkt der Norweger. Hinter dem Schachbrett verzieht der 22-Jährige kaum eine Miene. Regung zeigt er beinahe nur, wenn er sich mit den Händen durchs dichte blonde Haar fährt. Doch hinter der Fassade ist Carlsen hellwach und hasst Langeweile. „Etliche Partien wurden bei der letzten WM zu früh remisiert. Dafür gibt es keine Entschuldigung“, findet der Weltranglistenerste. Und es hört sich wie eine Drohung in Richtung Titelverteidiger Viswanathan Anand an, wenn das Model des Klamottenlabels G-Star RAW vor dem anstehenden Weltmeisterschaftskampf nachschiebt: „Man sollte in jedem Spiel das Letzte geben, das ist man sich und allen Schachfans schuldig.“

Derlei vermissten die Anhänger des königlichen Spiels von dem auf dem Thron sitzenden Inder Anand seit Jahren. Der wird zwar „Tiger von Madras“ genannt und doch wird ihm Zahnlosigkeit vorgeworfen. Auf Weltranglistenplatz acht ist der junge Vater abgerutscht. Vor drei Jahren schlug Anand noch als Nummer eins den direkt hinter ihm platzierten Carlsen. Doch jetzt liegen Welten zwischen beiden. Der 22-Jährige rangiert ohnehin unangefochten weit vor allen anderen. Mit 2.872 Elo-Ratingpunkten hat er einen neuen Rekord aufgestellt. „In kaum einem WM-Match der vergangenen Dekaden stand der Titelverteidiger so mit dem Rücken zur Wand wie diesmal“, analysiert der Brite Nigel Short, der 1993 im WM-Finale Garri Kasparow unterlag. Der norwegische Superstar macht ebenso wenig Hehl aus seiner Favoritenstellung – schließlich rechne er damit, „jedes Turnier zu gewinnen. Meine Chancen sind auch diesmal sehr gut“.

Bis auf die indischen Großmeister-Kollegen sieht keiner den Weltmeister auf Augenhöhe mit dem Herausforderer, wie selbst Anand vor der gestrigen WM-Eröffnungszeremonie feststellte. In Chennai (vormals Madras) will der 44-Jährige aber noch einmal sein „Bestes geben“, auch wenn der „Druck in meiner Heimatstadt höher ist“. In dem Match über zwölf Partien, das morgen (10.30 Uhr MEZ) mit dem ersten Zug beginnt und spätestens am 28. November mit einem Schnellschach-Tiebreak endet, geht es um mehr als Geld. Die 2 Millionen Euro, die die Provinzregierung für den ersten WM-Heimkampf ihres Nationalhelden aufbrachte, sind Nebensache. Es könnte Anands letztes großes Match sein. Anand ahnt: Mit einer Niederlage würde nach sechs Jahren als Weltmeister eine neue Ära anbrechen. The Indian Express sieht mit einem Wortspiel schon die Endzeit für den Brahmanen nahen. „Endgame?“ schrieb sie über einen Artikel zur WM.

Der letzte Sieg des Weltmeisters über den Herausforderer liegt mehr als zwei Jahre zurück. Die Zeit spielt gegen ihn. „Ich halte mich mit 37 schon für ziemlich alt, und Vishy ist mit 44 noch viel älter als ich“, sagt Ex-Weltmeister Wladimir Kramnik, der Carlsen beim Kandidatenturnier den Vortritt lassen musste. Schach sei zwar „nicht wie Fußball oder andere Sportarten, aber das Alter wirkt sich aus, wenn der Gegner deutlich jünger ist“, erläutert der Russe, der glaubt, „Carlsen hat viel mehr Energie und Motivation, weil er noch nicht Weltmeister war. Das sind seine größten Trümpfe.“ Kramnik gewann vor allem den Eindruck, dass sein Dauerrivale „eingeschüchtert“ sei und wie früher gegen Kasparow regelrecht „Angst“ vor dem Weltranglistenersten habe. „Vishy kann nur gewinnen, wenn er absolut relaxed ans Brett geht.“

Am ehesten bricht noch Carlsen selbst eine Lanze für den routinierteren Gegner: „Anand wird sich in einer besseren Verfassung als zuletzt befinden. Er geht nicht einfach zu Boden“, mahnt der halb so alte Herausforderer und erwartet einen in der Eröffnungsphase mit zahlreichen Computer-Varianten gut gewappneten Titelverteidiger. Das ehemalige Wunderkind, das bereits mit 13 Jahren Großmeister wurde, hat „einen ganz eigenen Zugang“ zum Schach, klingt Anand fast bewundernd. Dem Norweger genügt eine ausgeglichene Eröffnungsposition, wenn der Computer-Horizont auftaucht. Der austrainierte Tennisspieler, Hobbyfußballer und -kletterer vertraut auf seine bessere Kondition: „Anand muss die Konzentration aufrechterhalten, sonst wird er bestraft. Ich will ihn möglichst lange am Brett beschäftigen.“ Danach zeigt „Carlsen vom Schach“ ein seltenes Lächeln, wenn er nachschiebt, „lange genug, damit er einfach zusammenbricht“.

Psychospielchen müssen trotz der martialischen Aussagen beide Seiten kaum fürchten. Gar „herzlichen Umgang“ pflege man abseits der 64 Felder, berichtet Anand und scherzt mit Blick auf die früheren politischen West-Ost-Konflikte im Schach, die Medien müssten eben jetzt anderes aufbauschen, weil „Norwegen und Indien keine Atomraketen aufeinander gerichtet haben“.

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