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Ende einer Institution

Über 60 Jahre lang hat Gerda Petta Lebensmittel eingetütet, Brötchen geschmiert und sich die Sorgen der Kunden angehört. Jetzt verliert Altona-Nord seinen letzten Tante-Emma-Laden

„Früher mussten wir abwiegen und die Tüten zumachen, das tut ja keiner mehr“

von Ralf Lorenzen

Wenn Gerda Petta heute Mittag den Schlüssel ihres Kaufmannsladens umdreht, wird Hamburg ärmer sein. Die Bewohner im versteckten Viertel um Gerichts- und Haubachstraße in Altona-Nord verlieren mit ihrem letzten Tante-Emma-Laden gleichzeitig einen gewachsenen Nachbarschaftstreff – mit Kummerkasten- und Klönschnackgarantie. Alle anderen verlieren die Chance zu einer Zeitreise.

Wer von dem riesigen alte Persilplakat an der Hauswand Haubachstraße/Gerichtsstraße in den Laden gezogen wird, sieht zunächst die alten Holzregale, die bis zur Decke mit Pfanni-Pulver, Brandt-Zwieback und Onko-Kaffee gefüllt sind. Auf der Theke stehen große Gläser mit losen Süßigkeiten drin. Von irgendwo riecht es nach knusprigen frischen Brötchen. „Was darf es sein?“, fragt eine wache Stimme. Und tatsächlich, da erhebt sich ein freundlicher Kopf mit Brille und hellem Haar hinter der Ladentheke. Gerda Petta, die Botschafterin einer längst vergangenen Epoche, wird mit ihren 1,45 Meter Größe manchmal erst auf den zweiten Blick gesehen. Vergessen wird sie niemand.

„Mein Vater war erst bei Holsten, dann hat er mit meiner Mutter 1918 diesen Laden aufgemacht. Fünf Jahre später bin ich geboren.“ Von Geburt an lebt sie in diesem Haus. Nach der Schulzeit an der Theodor-Haubach-Straße gegenüber lernte sie bei ihren Eltern Kaufmannsgehilfin. „Nicht nur verkaufen, auch Buchführung.“ Nach dem Tod der Mutter führte sie den Laden allein, heute unterstützt von ihren beiden Töchtern und den Enkelkindern.

„Heute ist ja alles abgepackt, früher mussten wir alles abwiegen und die Tüten zumachen, das tut ja heute keiner mehr“, sagt Gerda Petta, während sie die bestellten Brötchen für die Arbeiter auf der Baustelle gegenüber schmiert. „Mit schön viel Belag, haben die gesagt.“ Die Arbeit hat ihr immer Spaß gemacht. Noch Anfang des Jahres hat sie einer Reporterin erzählt, dass sie hier so lange stehen bliebe, bis sie umkippt. Aber nun kann sie nicht mehr. „Ich bin von den Socken, richtig aufgebraucht. Sonst hätte ich nicht zugemacht.“

Eine Schülergruppe kommt herein. Die Jugendlichen sind ganz erschrocken als sie hören, dass sie ihre Pausen-Leckereien demnächst anderswo kaufen müssen. „Wieso machen Sie denn zu?“, fragt ein Mädchen und Gerda Petta antwortet, als müsste sie sich für ihren Ruhestand rechtfertigen: „Möchtest du mit 83 Jahren noch schwer arbeiten?“ Nein, das möchte niemand.

Trotzdem fällt es ihr schwer. „Meistens war es sehr schön. Meine Kundschaft ist eben wunderbar.“ Um sich den Abschied zu erleichtern, ruft sie sich eine der wenigen schlechten Erfahrungen ins Gedächtnis: „Das war im letzten D-Mark-Jahr.“ Ich lag hier und meine Tochter da, zeigt sie. „Wir wurden mit einem Filetiermesser bedroht und ausgeraubt.“ Kurz darauf hellt sich ihr Gesicht wieder auf, denn eine gute Bekannte betritt den Laden. „Das ist wie eine Familie hier“, sagt Silvia Kandt. „Wir haben schon bei der Mutter gekauft und auch meine Kinder kommen her. Sogar auf Toilette dürfen sie hier gehen. Und einen Tipp für meine Katzen bekomme ich immer dazu.“

Für Gerda Petta hört der Stress auch nach dem letzten Verkaufstag noch nicht auf. „Wir müssen noch die ganzen Regale rausreißen.“ Sie hätte es schön gefunden, wenn hier weiterhin ein Laden wäre, zur Not auch ein Fußpflegestudio. „Aber jetzt kommt hier wahrscheinlich ein Büro rein.“ Bei dem Gedanken verzieht sich ihr meist leicht verschmitztes Gesicht wieder etwas. Doch dann fällt doch noch der Satz, der den Kunden den Abschied ein wenig leichter macht: „Danach werde ich es mir schön gemütlich machen.“

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