piwik no script img

An den Rändern des Tönenden

ZEITGENÖSSISCHE MUSIK „Greatest Hits“ der anderen Art: Das gleichnamige neue Festival präsentiert vier Tage lang die Vielfalt zeitgenössischer klassischer und Neuer Musik

VON ROBERT MATTHIES

Ganz bewusst soll der Titel eine „kleine Frechheit“ sein. Denn Schlager, verkaufsträchtige Rockhymnen oder beliebte Melodien zum Mitsummen gibt es bei „Greatest Hits“ nicht zu hören. Stattdessen präsentiert das neue Festival der Elbphilharmonie ab Donnerstag vier Tage lang Musik, der bis heute der Ruf anhaftet, schwer genießbar zu sein – und dementsprechend schwer vermittelbar: zeitgenössische klassische und Neue Musik.

Rund 20 Veranstaltungen sollen bis zum kommenden Sonntag die Hemmschwelle senken und in einem dicht gepackten Programm unterschiedliche Facetten zeitgenössischer Musik beleuchten. Zu hören gibt es dabei nicht nur Aktuelles, sondern auch eine Reihe von Wiederaufführungen wenig bekannter Kompositionen. Zu Gast auf Kampnagel sind internationale Formationen, aber auch deutsche Ensembles und lokale Protagonisten.

Berührungsängste abbauen soll schon eine Mitmachaktion gleich zur Eröffnung: Für das Performancestück „Eine Brise“ des Komponisten Mauricio Kagel bilden 111 FahrradfahrerInnen einen Korso und führen verschiedene Klangaktionen aus: Klingeln, Singen, Pfeifen. Vorkenntnisse muss niemand mitbringen.

Auch zum Ende, am Sonntagabend, kann man noch einmal selbst aktiv werden und eines der 100 Metronome für György Ligetis „Poème symphonique“ aufziehen. 1962, während seiner kurzen Liaison mit der Düsseldorfer Fluxus-Szene, setzte der Ungar seine Idee einer mechanisch tickenden Musik erstmals um. Vorgeschrieben hat Ligeti zwar, wie die Metronome aufgezogen werden müssen – bei den einzustellenden Geschwindigkeiten aber lässt der Komponist den „Spielern“ weitgehend freie Hand. So ist das Stück einem doppelten Zufall ausgesetzt: Die Entscheidung der Interpreten und die mechanischen Unzulänglichkeiten der einzelnen Apparate lassen Dauer und Ablauf immer wieder anders ausfallen.

Unterteilt ist das „Greatest Hits“-Programm in fünf Themenstränge. In einem Schwerpunkt wird etwa der österreichische Komponist Georg Friedrich Haas vorgestellt, der herausragende Protagonist der „Musique spectrale“. Sie ist weder von der mathematischen Reihung der seriellen Musik noch von der freien Konstruktion des Atonalen geprägt, sondern fußt auf Obertönen und bricht das zwölftönige System zugunsten von Mikrointervallen und Panchromatik auf.

Zu hören sind zwei bemerkenswerte Stücke von Haas: Das US-amerikanische Streichquartett Jack Quartet spielt „In iij. Noct.“ – und das in völliger Dunkelheit, sodass die Musiker sich durch die nur fragmentarisch notierte Kammermusik tasten müssen. Ein besonderes Erlebnis verspricht auch Haas’ Klavierkonzert „limited approximations“ zu werden: Gespielt wird es auf sechs im Zwölftonabstand unterschiedlich gestimmten Flügeln.

Eine Festival-Sonderausgabe der Reihe „ePhil“ widmet sich den Anfängen der elektronischen Musik und präsentiert mit dem Theremin und den Ondes Martenot die Urahnen heutiger elektronischer Instrumente. Ganz neu werden außerdem wegweisende Arbeiten von Karlheinz Stockhausen oder György Ligeti zu hören sein: Punktgenau kann die Wellenfeldsyntheseanlage der Hochschule für Musik und Theater mit Hunderten von Lautsprechern Schallquellen im Raum abbilden.

An zwei Abenden präsentieren sich schließlich jeweils drei renommierte deutsche Ensembles. Szenische Bühnensituationen und die visuell-theatralische Seite aktueller Musik rückt etwa das Stuttgarter Ensemble ascolta in den Mittelpunkt. Zur Aufführung bringt es Francesco Filideis zehnminütiges Musikmanifest „I funerali dell’anarchico Serantini“, in dem sich der italienische Komponist mit dem Tod des jungen Anarchisten Franco Serantinis auseinandersetzt. Dieser starb 1972 nach Misshandlungen durch die Polizei im Gefängnis von Pisa.

Filideis Klangwelt ist eine radikal körperliche Musik, der das Tönende abhandengekommen ist. An einem langen schwarzen Tisch sitzen sechs schwarz gekleidete Spieler nebeneinander – und machen fünf Minuten lang gar nichts. Dann beginnen sie – nach einer präzisen Choreografie – die Köpfe zu verdrehen und leise zu schnaufen, sie pfeifen, schnalzen mit der Zunge oder atmen geräuschvoll ein und aus.

Ganz plötzlich schlagen fünf von ihnen die Hände auf den Tisch, nur der übrig Gebliebene blickt in stillem Entsetzen mit weit aufgerissenem Mund nach vorn. Nach ein paar Minuten stehen schließlich alle sechs nebeneinander, schnipsen mit den Fingern, klopfen und treten immer schnellere Rhythmen, husten und schreien, klatschen in die Hände – und verschwinden wieder in Stille und Dunkelheit.

■ Do, 14. 11. bis So, 17. 11., Kampnagel, Infos und Programm: greatest-hits-hamburg.de

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen