piwik no script img

„Sie hat sich sozusagen selbst erfunden“

ASTRID LINDGREN Glückliches Kind, zweifelnde Geheimdienstlerin, tüchtige Geschäftsfrau – die Hamburger Literaturwissenschaftlerin Birgit Dankert hat eine Biografie der Kinderbuchautorin geschrieben

Birgit Dankert

■ 69, war Professorin für Bibliothekswissenschaft an der Hochschule für angewandte Wissenschaften Hamburg. Sie war Vorsitzende der Jury zum Deutschen Jugendliteraturpreis und ist Beirätin des Kinderbuchhauses Hamburg

INTERVIEW FRANK KEIL

taz: Frau Dankert, wie haben Sie die Welt der Astrid Lindgren betreten?

Birgit Dankert: Einerseits durch die Lektüre von Pippi Langstrumpf, das ich allerdings ziemlich spät gelesen habe, nicht im angepeilten Lesealter, sondern erst mit zwölf Jahren. Und dann 1954, ich war zehn Jahre alt, durch das legendäre Hörspiel „Kalle Blomquist – der Meisterdetektiv“. Ein Straßenfeger: Wenn das im NWDR, so hieß der Vorläufer des Norddeutschen Rundfunks, am Sonntagnachmittag lief, waren die Straßen leer und alle Kinder saßen beglückt vor diesem Hörspiel.

Jetzt haben Sie eine Biografie über Astrid Lindgren geschrieben. Wonach haben Sie gesucht?

Ich wollte ihr – um ein ganz großes Wort zu gebrauchen – Gerechtigkeit widerfahren lassen. Ich suchte hinter den vielen Legenden und den vielen Lobreden nach der versteckten, imponierenden Frau und Schriftstellerin Astrid Lindgren. Ich suchte nach Erklärungen, wie eine Frau mit ihrer Biografie ab 1944 explosionsartig in nur zehn Jahren ein Werk der Kinder- und Jugendliteratur schafft, das es vorher noch nicht gegeben hat und wie sie dabei ihr eigenes Leben umkrempelt. Diese Zusammenschau von Leben und Werk habe ich gesucht. Mich interessierte weniger, ob nun für die Figur des Michel aus Lönneberga der Vater das Vorbild war oder für den Knecht vom Michel der Cousin, der auf dem Hof gearbeitet hat – das war mir zu wenig. Ich wollte wissen, wo ist der Genius von Astrid Lindgren erwacht?

Und wo ist er erwacht?

Dafür gibt es Legenden – und dafür gibt es andere Beweise. Sehr schön hat sie in ihren eigenen Kindheitserinnerungen erzählt, wie ihr in der Küche des Kuhhirten zum ersten Mal vorgelesen wurde; wie sie beim Anblick von Heckenrosen auf einer Weide zum ersten Mal die Ästhetik der Schönheit begriffen hat; oder wie sie, als sie sich das Bein gebrochen hatte, die Zeit fand, eine Geschichte, die sie ihrer Tochter erzählt hat, zu Pippi Langstrumpf umzuarbeiten. Das ist alles so gewesen, und das sind alles schöne Geschichten.

Aber?

Aber es gibt dahinter noch eine ganz andere Geschichte: die einer jungen Frau, die von einem sehr fortschrittlichen Bauernhof kam, die Journalistin werden wollte, die sich mit einer nichtehelichen Schwangerschaft auseinandersetzen musste, die ihr Kind anschließend ins Pflegeheim geben musste und die sich im Stockholm der 20er-Jahre etabliert hat – was ich eine unglaubliche Leistung finde. Und die dann einen Mann findet, mit dem sie eine Tochter bekommt – und Anfang der 30er entdeckt, dass ihr das alles nicht genügt. Die dann den Mut findet, mit der sogenannten Ur-Pippi Langstrumpf etwas zu schreiben, das ihrer inneren, rebellischen Gestimmtheit entsprach.

Es gibt von Astrid Lindgren zwei bemerkenswerte Selbstauskünfte: „Ich fand es mühsam, erwachsen zu werden“. Und: „Es ist nicht leicht, ein Kind zu sein.“ Was gilt denn nun?

Eine gewisse Melancholie, eine gewisse Schwierigkeit das Leben zu leben, war von Anfang an mit ihr. Für sie galt noch eine andere paradoxe Maxime: ‚Geborgenheit und Freiheit‘. Die Literatur wurde für sie ein Trostraum, ein Paradiesraum: In ihm konnte sie beides gewissermaßen leben. Aber es war immer ein Drahtseilakt.

Astrid Lindgren hat während des Krieges für den schwedischen Geheimdienst gearbeitet. Sie hat Briefe schwedischer Soldaten kontrolliert, ob diese in Kontakt zu Deutschland oder der Sowjetunion stehen.

Der menschliche Makel einer solchen Tätigkeit hat sie sehr beschäftigt. Schweden war neutral, hatte aber zu Recht Angst, dass die Deutschen trotzdem einmarschieren, zugleich fürchtete man Stalin, von daher war eine solche Spionagetätigkeit politisch gesehen gerechtfertigt. Aber natürlich war ein Mensch mit einem so feinen Gerechtigkeitssinn und dem Bemühen um schwedische Integrität schon sehr irritiert, dass sie das tun musste und vor allem dass sie darüber mit niemandem reden durfte. Gleichzeitig war es ganz lapidar eine schöne Aufbesserung der Haushaltskasse. Sie hatte ein regelmäßiges Einkommen, sie hat so viel Geld verdient wie vorher nie.

In keinem Land war Astrid Lindgren später so erfolgreich wie in Deutschland. Wie kam’s?

Astrid Lindgren hat 1920 Deutsch gelernt und sie ist während ihrer langen Lektürezeiten sehr intensiv mit der deutschen Kultur in Kontakt gekommen. Dann kam der Nationalsozialismus, den sie sofort als unmenschlich erkannt und den sie als Bedrohung empfunden hat. Nach dem Krieg entstand eine ganz andere Verbindung: Schweden hat zahlreiche KZ-Häftlingen aufgenommen, zugleich gibt es zahllose Hamburger Kinder, die mit der schwedischen Kinderspeisung groß geworden sind – was das bedeutet hat nach der Irritation durch die Nazizeit, kann man heute vielleicht gar nicht mehr nachvollziehen. Und dann kommt das wirtschaftliche Argument: Deutschland, selbst als geteiltes Land, war für eine schwedische Autorin als Buchmarkt sehr interessant. Es war das Sprungbrett für internationale Akzeptanz und das hat sie gerne wahrgenommen. Sie hat sich aber auch immer umarmt gefühlt. Sie hat mal zu Winston Churchill gesagt: „Die Deutschen hat man entweder am Hals oder sie liegen einem zu Füßen.“ Also verliebt war sie in uns Deutsche nicht.

Die meisten Schriftsteller möchten in Ruhe arbeiten – und nichts mit der schnöden Verlagswelt zu tun haben. Astrid Lindgren war stets Schriftstellerin und Verlagsmitarbeiterin. Warum?

Sie hat sich sozusagen selbst erfunden, und das hat sie mit Hilfe ihrer Verlagstätigkeit getan. Dieses Biotop der Kinder- und Jugendliteratur im Kontext lesefördernder Maßnahmen, mit Medienadaptionen, mit Charity und Preisverleihungen, das uns heute so sehr vertraut ist, das musste erst entwickelt werden – und da saß sie an den Stellschrauben. Nicht zu vergessen die sehr finanzkräftigen Verfilmungen ihrer Bücher, die ganze Copyrightgeschichte, die Lizenzverkäufe – da war sie eine Pionierin. Man kann sagen: Sie war da, wo der Wind am frischesten wehte und das hat sie für sich genutzt.

Wer wird ihre Welt bewahren? Die zukünftigen Kindergenerationen oder die derzeitigen Erwachsenen, die mit ihren Büchern aufgewachsen sind?

Ich denke eine gelungene Kombination aus dem Kind in jedem Erwachsenen und den tatsächlichen Kindern. Ihre Texte sind für mich so kreativ und so ausdeutbar und das für unterschiedliche Lebensalter und Lebensphasen, dass ich sie vielleicht nicht für unsterblich, aber noch für viele Generationen für tauglich halte.

Birgit Dankert: „Astrid Lindgren – eine lebenslange Kindheit“, Verlag Lambert Schneider, Darmstadt, 320 S., 24,99 Euro

Datenbank zu Astrid Lindgren: www.bui.haw-hamburg.de/lindgren

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen