Dackeln, stehen, glotzen

Bolle reiste jüngst zu Pfingsten: eine erste Ankunft am neuen Berliner Hauptbahnhof

Das Eröffnungsfest für den neuen Berliner Hauptbahnhof sehe ich mir aus sicherer Entfernung an: vor dem Fernseher in Hamburg. Sichere Entfernung ist gut, wie sich im Nachhinein herausstellt: Ein 16-jähriger Neuköllner messert zur Feier des Tages dreißig Leute nieder.

Diese Berliner! Ihre Art zu feiern habe ich noch nie verstanden. Egal ob Silvester, Love Parade oder die Einweihung einer Kindertagesstätte – Gewalt gehört schlicht dazu. Das erste Mal kam ich mit diesem fragwürdigen Brauch in Berührung, als wir in der Volksschule das Bolle-Lied einstudierten: „Hat’s Messer rausgezogen/ Und fünfe massakriert/ Aber dennoch hat sich Bolle/ Janz köstlich amüsiert.“ Lange Jahre grübelte ich: Warum gehört es zu einem Fest, sich gegenseitig wehzutun? Ich fand keine Lösung. Irgendwann gab ich auf.

Am Tag der regulären Inbetriebnahme des Bahnhofs muss ich dann doch zurück nach Berlin. Es gibt drei Hauptgründe: Erstens regnet und stürmt es seit Tagen ohne Unterlass; zweitens bekomme ich Depressionen; drittens: Ich will nicht ertrinken. Oder, in einem einzigen Wort zusammengefasst: Hamburg. Karen Duve, die in ihrem Märchenroman „Die entführte Prinzessin“ das Bild eines sagenhaft unwirtlichen „Nordlandes“ entwirft, hat offenbar einfach nur ihre Heimatstadt beschrieben. „Das Loch im Norden“ ist mit Wasser voll gelaufen, und die wie ersaufende Ratten verzweifelt darin herumpaddelnden Fremden suchen das Weite – via Hauptbahnhof, den es hier schon länger gibt.

Die Bahnsteige sind an diesem Sonntagnachmittag mit Flüchtlingen überfüllt. Das Szenario erinnert an Krieg. Gerade noch kann ich mich an einem Zug nach Berlin fest krallen, da geht es auch schon los. Sofort hinter der Stadtgrenze bricht die Wolkendecke auf und legt den Blick auf einen blauen Himmel frei sowie auf ein grell gleißendes rundes Ding, dessen Namen ich längst vergessen glaubte: Das muss die Sonne sein!

In Berlin fahre ich erstmals in das Untergeschoss des neuen Hauptbahnhofs ein. Sofort nach dem Aussteigen merke ich, was für ein gigantischer Fehler es war, den Zug nicht schon in Spandau verlassen zu haben. Und etwas anderes wird mir ebenfalls klar: Der Messerstecher war kein Verrückter – er war ein Reisender! Reisende sind Leute, die von A nach B wollen, und zwar fix. Das geht hier aber nicht. Jetzt erst weiß ich, dass Hamburg bloß ein Scharmützel war – der Krieg, der echte furchtbare Krieg tobt hier. Vor mir dackeln Doofe herum und glotzen. Sie bleiben stehen und glotzen an die Decke. Dann dackeln sie weiter, langsam, ziellos und nach dem Zufallsprinzip pendelnd und schwankend irgendwohin, nur eines nicht: ankommend. Sie bleiben stehen und glotzen zur Seite. Sie bleiben stehen und glotzen nach unten. Sie fotografieren sich gegenseitig: beim Dackeln, beim Stehen, beim Glotzen. In undurchdringlichen Doofenpulks versperren sie Gänge, Treppen und Bahnsteige. Warum sie nicht gleich überall Barrikaden errichten und anzünden? Weil es nicht nötig ist – es kommt auch so keiner durch. Ich will nach Hause. Ich will ein Messer. Ich will nach Hamburg zurück: Dunkles Nass/ Umarme mich/Dann ist’s bald überstanden …

Ich schubse auf der Suche nach den Aufgängen zur S-Bahn Doofe zur Seite. Ab und zu rufe ich: „Achtung! Ich bin ein Reisender! Ich will nur von A nach B! Wenn ihr mich durchlasst, bin ich bald verschwunden, und ihr habt mehr Platz für euch, zum Dackeln und Glotzen!“

Doch es hilft nichts – sie wollen gar nicht mehr Platz. Sie finden das anscheinend alles sehr schön so. Und mit einem Mal fällt mir auf, dass das Bolle-Lied trotz allem keinesfalls der Wahrheit entspricht: „Bolle reiste jüngst zu Pfingsten …“ – kann gar nicht sein! Wie denn?

ULI HANNEMANN