: Abschied vom Infotisch
PROTESTTRAINING Im Hamburger Centro Sociale lernen linke Aktivisten, wie sich Widerstand kreativ artikulieren lässt. Der Tübinger Protesttrainer Marc Amann kennt sich damit aus
Marc Amann, Protesttrainer
VON MART-JAN KNOCHE
Am ersten Tag malt der Workshop-Leiter Marc Amann eine riesige Karte des politischen Protests. Fast alle seine Schüler sind demoerfahren und helfen motiviert mit. So hängt an einer kahlen Wand im autonomen Stadtteilzentrum Centro Sociale in der Hamburger Schanze bald das komplette ABC des Welt-aus-den-Angeln-Hebens und System-Ärgerns. Auf zwei mal drei Meter große Pappen kritzeln und gliedern sie alle erdenklichen Protestformen unter Stichworten wie „Alternativen aufbauen“, „Besetzung und Aneignung“, „Performance“ bis „Demonstrationen“.
Mit der wild verzweigten Mindmap beginnt Marc Amann seinen Workshop „Jenseits des Infotisches – kreative, politische Aktionsformen“. Die Frage ist: Wie erreiche ich politische Ziele ohne Unterschriften-Stand vor dem Supermarkt?
Quer durch die Republik
Gebucht wurde Protesttrainer Amann vom Hamburger Eine Welt Netzwerk, einem Dachverband von rund hundert entwicklungspolitischen Initiativen. Amnesty International hat seine Mitarbeiter von ihm trainieren lassen, aber auch für Antifa-Gruppen reist der Tübinger quer durch die Republik. Er hat das Buch „Go.Stop.Act! Die Kunst des kreativen Straßenprotests“ herausgegeben und bereitet gerade die dritte Auflage vor, weil von der zweiten einzig im Attac-Shop noch einige Exemplare erhältlich sind.
Amann, Jahrgang 1973, will das eigentlich nicht in der Zeitung lesen, aber: in Deutschland gibt es wohl nur einen, der die Kunst nahezu aller Protestformen beherrscht. Und noch dazu professionell lehrt, wie heute beim Eine Welt Netzwerk. Am zweiten Workshop-Tag will Amann seine zwölf Schüler in die Praxis des kreativen Protests einführen. Ehrenamtlich aktive Bürger, Abiturienten, linke Urgesteine sitzen in der Runde, längst graue und noch grüne Gesandte unterschiedlichster Initiativen.
Klar definiertes Ziel
Heute soll jeder eine für sich geeignete Form des zivilen Aufbegehrens gegen den Staat wählen und durchspielen. Zum Beispiel die beiden sportlichen Herrn vom Allgemeinen Deutschen Fahrradclub Hamburg (ADFC), die vorne rechts Stuhl an Stuhl sitzen. Wenn der eine umher läuft, klacken bei jedem Schritt die Pedalhaken unter seinen Fahrradschuhen. „Wir wollen endlich die Benutzungspflicht der Radwege aufheben, totaler Quatsch ist das“, schimpft der andere. Hamburgs Straßenverkehrsordnung ändern? Protesttrainer Amann strahlt. Ein klar definiertes Ziel ist die erste Voraussetzung für eine professionelle Aktionsplanung. „Setzt das Ziel eurer Aktion so konkret wie möglich“, sagt Amann.
Wichtig für den Erfolg sei, dass das Ziel zwar ruhig ehrgeizig, aber doch erreichbar ist. Auch außerhalb der eigenen Gruppe sollten Menschen existieren, die das formulierte Aktionsziel akzeptieren. Und die Aktionen müssen zu den Teilnehmern passen: Nicht jeder ist ein „Rebel Clown“.
Amann sieht sich als „Sammler kreativer Protestformen“. Damit angefangen hat er 2000, als er an den bunten Protesten in Prag gegen IWF und Weltbank teilnahm. Amanns radikal linker, aber nicht militanter Aktivismus erhielt damals Inspiration: Hatte er zuvor Blockade-Trainings für Castor-Transporte organisiert, beschäftigte er sich jetzt mit Flashmobs und „Radical Puppetry“. Er organisierte den bislang größten Flashmob Deutschlands gegen die Deutsche Bahn. 2007 schulte er für den G8-Gipfel bundesweit dutzende Initiativen im Großpuppenbau. Mehr als hundert dieser politischen Puppen prägten dann die Demos durch Rostock.
„Unsere Mitgliedsgruppen sind unzufrieden damit, wie ihre Ziele in der Öffentlichkeit wahrgenommen werden“, sagt Anke Schwarzer vom Eine Welt Netzwerk. Der klassische Info-Tisch und „Latsche-Demos“ mobilisierten niemand mehr. Gerade bei Themen wie Menschenrechten, Fairer Handel oder Integration hätten viele das Gefühl, dass sie sich nur noch mit Phantasie und Provokation Gehör verschaffen können.
Das koloniale Herz
Nachholbedarf sehen auch die Aktivisten, die sich mit den Straßennamen der Hafen-City beschäftigen, in denen sie „Hamburgs koloniales Herz“ schlagen hören. Einige anwesenden Eine Welt Netzwerk-Mitglieder engagieren sich seit Jahren gegen die Verklärung Hamburger Kolonialgeschichte. Unerträglich seien Namen wie „Kaiserkai“, sagen sie. In der Seminarrunde stellen sie ihren Aktionsplan vor: Erstens „eigenmächtige Straßenumbenennung“, zweitens „historisches Theater mit einem Sklavenzug durch das Viertel“.
„Also ich würde erstmal einen Brief an die verantwortliche Behörde schreiben“, wirft eine Abiturientin ein. Ja, das sollte der erste Schritt sein, sagt Amann. Träge Apparate reagierten oft erst, wenn sie auf Missstände hingewiesen werden. „Ein höflicher Brief ist kreativ, wenn er effizient für das Ziel ist.“ Daran hatten die Aktivisten noch gar nicht gedacht.
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