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Kein Rad für niemand

UNTERWEGS Das Reiserad – gibt es das überhaupt? Nicht als Radtyp, aber möglicherweise als eine Fahrrad gewordene Geisteshaltung

Haltbarkeit, Wartungsarmut, einfache Reparatur und Komfort rücken in den Vordergrund

VON GUNNAR FEHLAU

Heinz Helfgen hat’s noch leicht gehabt. Etwas Kleingeld in der Hosentasche, seine Siebensachen auf dem Gepäckträger, und schon konnte die Tour um die Welt beginnen. Warum sich auch Gedanken übers richtige Rad machen? Dreigangschaltung und Stahlrahmen genügten ihm – und was anderes war 1951 ohnehin kaum zu haben.

Heute herrscht die Qual der Wahl. Auch beim Reisen mit dem Rad setzt die Industrie auf Vielfalt. Ob Tiefeinsteiger, Rennrad, Mountainbike, Faltrad oder Liegerad – unter jedem Radtyp finden sich Modelle, die als Reiseräder ausgewiesen sind oder denen der Hersteller zumindest Reisetauglichkeit attestiert. Was durchaus ein Vorteil sein kann: Man muss nicht von seinem Lieblingsradtyp abweichen, wenn man das ultimative Rad für die nächste Tour im Stadtpark oder auf dem Karakorum-Highway auswählt.

Aber was ist eigentlich ein Reiserad? Kein Radtyp, sondern ein Konstruktionsprinzip, darauf scheinen sich mittlerweile die meisten Produzenten geeinigt zu haben. Und das bedeutet: Haltbarkeit, Wartungsarmut, einfache Reparatur und Komfort rücken in den Vordergrund. Leichtbau, Tempo und geringer Preis treten in den Hintergrund.

Beispiel Trekkingrad: Wer auf große Reise geht, achtet auf standfeste Bremsen, stabilen Gepäckträger und steifen Rahmen. Der Stadt-Trekkingradler wählt das möglichst leichtere Modell mit Nabendynamo-Beleuchtung und Schutzblechen. Ein Radtyp, zwei unterschiedliche Fahrräder. Und damit Anforderungen, denen sich die Hersteller auch in unterschiedlicher Weise stellen. Vorbildhaft in Qualität und Konzeption dürfte die saarländische Manufaktur Utopia sein. Ihr Baukasten-System bietet Stadt- und Reiseradlern eine üppige Auswahl an Modellen, Komponenten und Anbauteilen. Jeder kann hier sein Rad zusammenstellen, alle verfügbaren Kombinationen erfüllen GS-Standards (Geprüfte Sicherheit). Nach Angaben des Herstellers ein Novum in der Radszene.

Doch auch mit Extremisten lässt sich gut reisen, etwa mit dem Liegerad. Von Menschen, die es auf längeren Distanzen ausschließlich fahren, hört man Erfahrungsberichte, die sich recht kurz zusammenfassen lassen: maximaler Komfort. Dafür steht sicherlich auch das Liege-Dreirad Scorpion von HP Velotechnik. Es transportiert reichlich Gepäck und bietet zugleich den Luxus, dass man sich beim Radeln gänzlich dem Panoramablick widmen und aufs Balancieren verzichten kann. Wem jedoch Flexibilität wichtiger ist, könnte etwas völlig anderes wählen – ein Faltrad. Das hat mit Klapprad so viel zu tun wie ein Golf VI mit dem T-Modell von Ford. Handelt es sich doch beim ausgereiften Typ heutiger Provenienz um ein Hightech-Fahrzeug mit kleinen Laufrädern, das in Fahrverhalten und Zuladung vielen ausgewachsenen Bikes in nichts nachsteht. Noch schöner: Bus, Fähre, Flieger, mit dem Falter alles kein Problem.

Will man schnell vorwärtskommen, bietet sich ein reisetaugliches Rennrad an. Das gibt es in Form von sportiven Rennliegerädern und als klassische Randonneure. Das sind Rennräder mit gemäßigter Fahrhaltung, breiteren Reifen, kleinen Gepäckträgern und besseren Bremsen. Modelle von Koga Miyata oder Schubert & Schefzyk markierten in den 80er-Jahren den Maßstab. Modelle wie der Ur-Velotraum oder das Papalagi von MTB Cycletech überführten den Randonneur-Gedanken dann auf den Waldweg. Und dort erlebt man seitdem Reiseräder, die nicht unbedingt schnell, aber zügig sind, dazu ladefreudig, geländegängig und stabil. Die beiden erwähnten Modelle sind – mittlerweile mehrfach überarbeitet – heute noch zu bekommen. Der Randonneur wurde für einige Jahre fast komplett vom Reisemountainbike verdrängt.

Oft im Selbstumbau realisiert, versuchte man die Stabilität und Geländegängigkeit des MTB auf die Reise zu schicken. Zwar trauten sich nur wenige Hersteller an dieses Konvertierungsprogramm, doch Riese und Müller kann sogar ein voll gefedertes Reise-MTB vorweisen, das Intercontinental. Es wurde auch schon mal in einer voll gefederten Reise-Mountainbike-Tandem-Version samt E-Motor gesichtet – mehr Nische geht wohl kaum.

Wobei das E-Bike gegenwärtig den neusten Trend unter den Reisemodellen darstellt. Spätestens mit der Entwicklung zum Fahren mit vorinstalliertem Rückenwind dank Lithium-Akku dürfte klar werden: Das Reiserad gibt es nicht.

Sein Konstruktionsprinzip erlaubt vielleicht nicht alles, aber doch eine Menge. Hightech sowieso, aber auch Lowtech in gewissen Maßen. Allerdings sollte man im letzteren Falle bereit sein, Kompromisse einzugehen und Defekte als willkommene Abwechslung im Reiseablauf zu verstehen. Eine Einstellung, mit der es Heinz Helfgen noch weit gebracht hat.

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