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„Ungeschlagen wie saure Sahne“

Das wird die WM, die wird: Die taz wagt einen Ausblick auf die Fußball-Weltmeisterschaft, auf einen Monat voller Kicks

VON BERND MÜLLENDER

Pazifischer Ozean, 1. Juni: Um Schlag 0 Uhr ist es an der Datumsgrenze endlich so weit gewesen: Der WM-Monat hat sich aus den Tiefen der Zeit geschält.

Rom, 4. Juni, morgens: Auf dem Petersplatz zu Rom segnet der Papst vor Millionen Gläubigen einen WM-Ball („Du bist der Leib homini“). Benedikt XVI. kündigt für den Fall eines deutschen Titelgewinns die Enzyklika euphoriensis an: Uhren und Kalender würden, so Ratzinger, umgehend auf den „Benediktinischen Kalender“ umgestellt. „Dann beginnt das neue Jahr des Herrn schon am 9. Juli in der Stunde des Schlusspfiffs. Halleluja.“

Rom, 4. Juni, mittags: Der Autor dieser Zeilen, zufällig in Rom anwesend, ist von der päpstlichen Aura ergriffener als von Ronaldinhos Geniestreichen und Wayne Rooneys Leidensgeschichte. In eine milde Meditation versunken, sieht er plötzlich leibhaftige Spiele und Ereignisse rund um die anstehende WM vor sich: die Begegnungen mit allen Toren und tausenderlei Drumherum, als hätte er einen Sportkanal mit Vorlauf implantiert.

Frankfurt Airport, 5. Juni: Selig lächelnd kommt der sehende Reporter ins WM-Land zurück und schaut auf ein glückliches Stück Erden. Die Menschen laufen ausnahmslos als Bälle und Fans verkleidet herum, ein ganzes Land ist geschminkt in Nationalfarben, alle lachen und scherzen. Die Menschen ernähren sich zum Frommen der WM-Sponsoren nur noch von lizensierten Produkten und trinken sogar US-amerikanisches Fifa-Bier, ohne in größerer Zahl ernsthaft zu erkranken. Die Sonne scheint, selbst Zugschaffner lächeln, Politiker umarmen sich. Das Nörglerland scheint von paradiesischem Glück durchtränkt.

Berlin, 7. Juni: Angela Merkel verzeichnet erste Facherfolge im Bundestag: „Ich habe jetzt schon verstanden, dass ein Anstoß nichts Anstößiges ist und ein Tor nicht unbedingt jemand aus der Opposition.“

München, 9. Juni, mittags: Franz Beckenbauer will sich an die 90-minütige Vorgabe bei seiner Eröffnungsrede halten – „woarscheinlich komme ich ohne Verlängerung aus“.

München, 9. Juni, spät abends: Kurz vor Mitternacht verlassen nach knapp acht Stunden Beckenbauer-Rede die ersten Fans das Stadion. Zuletzt versuchte der Firlefranz über die Erkenntnisse seiner Lieblingsphilosophen „Kant, Sophokles und eine Spur Rehhakles“ die tiefere Bedeutung seines „Schaumermal“ herzuleiten. Gegen 00:30 teilt die Fifa mit, das Spiel Deutschland-Costa Rica werde „bald, vermutlich noch in dieser Nacht, angepfiffen“.

München, 10. Juni: Um 3:03 Uhr nachts beginnt die WM. Überraschend doch mit Kahn im Tor statt Jens Lehmann, der sich in der Kabine angeblich einen Kieferköpfchenkrampf nach stundenlangem Kaugummi-Abusus zugezogen hat. Costa Rica geht früh in Führung, aber ausgerechnet Olli Kahn erzielt in der Nachspielzeit gegen 4 Uhr 55 den Ausgleich zum 1:1. Im Morgengrauen sieht Jürgen Klinsmann („meinem Biorhythmus als Amerikaner gefällt der späte Anstoß“) seine Philosophie bestätigt, wonach „ein mitspielender Torwart, der wo gleichzeitig ein guter Torraumspieler ist“, unverzichtbar sei. Beckenbauer ergänzt, er halte „alle Philosophien für unverzichtbar“. Auch das beliebte „Ja mei“ sei „negiert undenkbar“.

Gelsenkirchen, 9./10. Juni: Die Verspätung in München kommt den Verantwortlichen in Gelsenkirchen gerade recht. Die Personenkontrollen an den Eingängen waren gegen Mitternacht erst zur Hälfte geschafft. Um kurz nach 5 Uhr kann endlich das zweite WM-Spiel Polen-Ecuador angepfiffen werden. Zwei ermüdete Teams trennen sich 0:0. Deutschland ist Tabellenführer, Kahn bislang WM-Torschützenkönig.

Herzogenaurach, 10. Juni: Puma will auf einer Pressekonferenz „Beweise vorlegen, dass Adidas mit Millionenzahlungen den Einsatz von Oliver Kahn erkauft“ habe. Einer der „größten weltweiten Werbeträger“ könne nicht einfach auf die Bank gezwungen werden.

Nürnberg, 11. Juni: Die Angst vor dem Spiel Mexiko gegen den Uranstaat Iran war berechtigt: Tatsächlich heizt eine Welle von Festnahmen die Stimmung schon am Mittag an: Bärtige Männer werden, wie die Polizei mitteilt, rund um das Stadion „in vorsorglichen Gewahrsam genommen“. Alle Festgenommenen behaupten, sie seien nicht Mahmud Ahmadinedschad. Einer kann sich sogar als Wolfgang Thierse ausweisen. Die Behörden bleiben bei der harten Linie: „Irans Präsident ist im Fanblock untergetaucht. Wir finden ihn.“

Dortmund, 14. Juni: Gegen Polen steht trotz Gesichtsmuskeljubelzerrung weiter der Titan im Kasten. „Kahn steht im Tor, im Tor, im Tor und Jens dahinter“, rezitiert der ausgelassen singende Uli Hoeneß sogar einen alten Hit von Wencke Myhre. Deutschland schafft trotz mehrerer Kahn-Patzer immerhin ein 3:3. Die Tore erzielen Schweini und die Exilpolen Poldi und Klosi.

Hamburg, 15. Juni: Costa Rica-Ecuador 1:1. Deutschland bleibt Tabellenführer. „Wir haben uns dem ersten Ansturm der Weltelite widersetzt“, sagt Analytiker Jürgen Klinsmann, bevor er zu einem Zwischenurlaub nach Los Angeles abhebt.

Berlin-Grunewald, 16. Juni: Der genesene Lehmann reist aus dem Teamquartier ab. „Ich bin die Nr. 1. Das ist mein Grundrecht. Wenn ich trotzdem nicht spiele, bin ich wenigstens die Nr. 1 zu Hause.“ Klinsmann aus Newport Beach: „Nicht jede 1 ist erste Wahl.“ Er nominiert Toni Turek selig nach: „Der hält zwar keinen Ball mehr, aber wenigstens die Schnauze.“

Leipzig, 18. Juni: Nach zehn Tagen WM mehren sich Klagen über Pampigkeit des Servicepersonals, von Übersetzern, Kellnern bis zu Taxifahrern und städtischen Helfern. Ein WM-Tourist aus Südkorea erklärt, ihm sei der Stadionzutritt verweigert worden mit der Begründung: „Wir warten noch auf Anschlussreisende.“ Andere hören seltsame Stadiondurchsagen wie: „Bitte in Fahrtrichtung rechts zum Tribünenplatz hochsteigen.“ Ein verstörter Franzose sagt, er sei wieder weggeschickt worden: „Ainer att gesagt: Das Spiel fährt heute ausnahmsweise aus Stadiongleis 5.“ Er staunt: „Isch versteh nur Bann-Off.“ Das Spiel endet 2:2.

Berlin, 19. Juni: Die Deutsche Bahn reagiert schneller auf die Service-Klagen als ihre Züge je fuhren. Die Bahn, deren Tochter DB Training mehr als 6.000 Freiwillige ausgebildet hatte, etwa in „interkultureller Kompetenz“ und „Kunden- und Serviceorientierung“, weist jede Schuld am Chaos von sich.

Berlin, 19. Juni: Jürgen Klinsmann ist schon wieder zurück, einen vollen Tag vor dem Anpfiff.

Berlin, 20. Juni, abends: Durch das dritte Unentschieden (0:0 gegen Ecuador), bei dem die südamerikanischen Gegner zwei Elfmeter verschossen, qualifiziert sich das DFB-Team „mit triumphaler Glücksbeladenheit“ (SZ) für das Achtelfinale. Alle Spiele in der Gruppe A waren remis geendet, aber keiner hatte spektakuläre 4:4 Tore geschafft wie die offensiven Cleansmen. „Wir sind schon wieder wer“, jubelt der Boulevard. Merkel stellt mit Recht fest, ihr Land bleibe „ungeschlagen wie saure Sahne“. Der Begriff Turniermannschaft ist mittlerweile in 67 Sprachen übersetzt, darunter Suaheli und Fidschi.

Frankfurt, 21. Juni: Nullzunull wird WM-weit zum „traurigen Standardergebnis“. Deshalb fahndet Bild schon nach „Medikamentenspenden gegen das Torjägervirus“. Fachleute führen die Tristesse auf „gebündelte Defensiv-Konzentrate der großen Nationen“ zurück. Das sogar torschusslose 0:0-Unentschieden am Abend zwischen Holland und Argentinien ist schon die zwölfte Nulldiät des Turniers. Immerhin verhilft es beiden Teams zum gemeinschaftlich Arm in Arm gefeierten Achtelfinal-Einzug. Die düpierten Serben, die zeitgleich trotz eines spektakulären 7:3 gegen Elfenbeinküste beifallumrauscht ausscheiden, sind empört: „Das war ja wie auf dem Balkan. Frankfurt heißt ab heute Gijon.“

Kaiserslautern, 23. Juni: Spanien zeigt sich solidarisch mit Schweden, Kroatien und Tschechien und scheidet aus. Nach dem 2:2 gegen Saudi-Arabien schimpft ein Offizieller: „Nie mehr ziehen wir nach Kaiserau. Dieses Culo von Sportschule. Alle anderen haben tolle Hotels, und wir eine Art Jugendherberge.“ Spanien hatte blauäugig auf Mythos gesetzt: In Kaiserau hatte Deutschland 1974 und 1990 karg logiert und war Champion geworden.

Köln, 23. Juni: Togo schlägt Frankreich 1:0. „Der Senegal ist überall“, versucht Liberation mit den Gedanken an das Eröffnungsspiel 2002 zu scherzen. Frankreich sagt Adieu. Zinedine Zidane beendet humpelnd seine Karriere.

London, 24. Juni: Jens Lehmann will im Achtelfinale gegen Deutschland im Tor der Engländer stehen. Das meldet The Sun. Die Fifa lehnt ab. Lehmann („keiner will mich“) beendet seine Karriere. „Jetzt“, kommentiert die Münchner Abendzeitung kulinarisch, „kahn er seine Kaugummis endlich in Ruhe essen“.

München, 24. Juni: Durch ein Eigentor des Engländers Steven Gerrard in der vorletzten Minute der Verlängerung erreicht die deutsche Elf mit 1:0 das Viertelfinale. Gerrard wird noch in der Nacht von der Queen zum Ritter geschlagen. „Dieser große Sohn Albions hat durch seine heldenhafte Tat die neuerliche Schmach eines Elfmeterschießens abgewendet.“

Kaiserslautern, 26. Juni: Das Achtelfinale Brasilien gegen Italien ist für die Fußballwelt ein Fest und für Dr. dent. Markus Merk „die Erfüllung eines Lebenstraumes“. Der Pfälzer Bohrer-Bub darf erstmals auf dem Betze ein Spiel pfeifen. Berauscht von seinem Glück gerät er in Ronaldinhos Umlaufbahn und schlägt ihm beim Zusammenprall die Schneidezähne aus. Ó Globo textet: „Der Fußball wird ohne Ronaldinhos Markenzeichen nie wieder sein, wie er einmal war.“ Schlimmer noch: Paralysiert vom zahnlosen Star scheidet Brasilien wie schon 1982 mit 2:3 aus. Und wieder schießt ein Azzurro drei Tore: Nach Paolo Rossi 1982 jetzt Luca Toni.

Dortmund/Hannover, 27. Juni: Die vermeintliche Langweiler-Gruppe H hatte in der Vorrunde den attraktivsten Fußball gezeigt – jetzt aber scheiden die wieselnden Tunesier und die wilden Ukrainer mit dem siebenfachen Torschützen Andrej Schewtschenko in den Achtelfinals aus. Deren spektakulärer Offensivfußball wird von der nüchternen Schweiz („Grüetzi Semihalbfinali“) weggeblockt, Tunesien von den Konditionskohorten Südkoreas weggerannt.

München, 27. Juni: Franz Beckenbauer ist von den Koreanern begeistert: „Die Zukunft des Fußballs liegt in Asien“. Bei Gelegenheit will der Leder-Kaiser, der bekanntlich an eine Wiedergeburt als Frau glaubt, „in Seoul als zierliche Koreanerin zur Welt kommen“.

Seoul, 28. Juni: Korea ist geschockt: „Wenn das die Folge eines WM-Erfolgs ist, sollten wir höflich darauf verzichten.“ Ansonsten solle Beckenbauer „lieber bei unseren Brüdern und Schwestern im Norden wiedergeboren werden. Dort stehen sie auf große Führer.“

WM-Land, 28. Juni: Millionen Menschen sind verzweifelt. Zum ersten Mal seit fast drei Wochen: kein Fußballspiel. Nichts. Ruhende Kugeln allerorten. Massentherapiesitzungen sollen helfen. Trotzdem kommt es vielfach zu Aggressionsausbrüchen gelangweilter Fans.

WM-Land, 30. Juni, mittags: Ein plötzlicher Durchfallvirus im niederländischen Team (nach dem spektakulären 6:0 im Achtelfinale gegen Mexiko) scheint die Elftal arg zu schwächen. Marco van Bastens Antrag auf Ersatzpersonal hat wenig Aussicht auf Erfolg, dafür sind die Einflüsse der Deutschen bei der Fifa zu groß: „Wir werden“, teilt van Basten mit, „höchstens zu siebt auflaufen können. Der Rest kotzt und fiebert. Das muss Montezumas Rache unseres letzten Gegners sein.“

Hinterzarten, 30. Juni, nachmittags: Im Revier der Niederländer sitzen derweil sechs deutsche Pharmazeuten von Bayer und Schering und lachen sich über ihren Coup schlapp: „Und die blöden Holländer trinken das Zeug auch noch …“ Die FAZ sekundiert mit tröstenden Worten: „Wie wir alle wissen, hat ein Jan Holland im Film ‚Das Wunder von Bern‘ den deutschen Weltmeister Karl Mai gespielt. Dadurch sind die Niederlande bereits Weltmeister. Herzlichen Glückwunsch!“

WM-Land, im Juli: Die Dramatik steigt: Am 4. Juli, dem Halbfinaltermin, wäre aus historischer Sicht ein deutscher Sieg sicher. Am 4. Juli 1954 wurde Deutschland Weltmeister. In der Nacht auf den 4. Juli 1974 fegte Deutschland die Polen in der Frankfurter Regenschlacht weg. Dann das Halbfinale gegen England am 4. Juli 1990, als Pierce und Waddle am Mythos scheiterten mit ihren Elfmetern. Selbst die deutschen Basketballer wurden 1993 an einem 4. Juli das einzige Mal Europameister. Und Otto Rehhagel holte am 4. Juli 2004 die Europameisterschaft nach Griechenland.

WM-Land, 9. Juli: Schon Wochen vor dem großen Finale hatte das Büro für absurde Statistik mitgeteilt, ein deutscher WM-Titel würde auf den Tag genau 1.001 Nacht nach dem Golden Goal von Kickerin Nia Künzer beim Finale der deutschen Frauen 2003 stattfinden. Ist es Vorsehung? Wird es so kommen? Darf das sein? Rom antwortet nicht mehr. Es droht in restweltverachtender Gnadenlosigkeit: Das Wunder von Berlin.

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