: Ein Schloss im Gipfelwahn
Heute sind Merkel und Chirac in Rheinsberg. Ein Vorbericht vom Rande des Erträglichen
Seit Februar dieses Jahres wohne ich im Marstall des Rheinsberger Schlosses. Im Winter ist es hier still, mit dem Frühjahr jedoch erwachen die Handwerker und ich lerne: Ein Schloss ist ein komplettes Sanierungsgebiet in einem Gebäude. „Rheinsberg, ein Bilderbuch für Verliebte“, betitelte Kurt Tucholsky seine Liebesschnulze, und heute, da es Juni geworden ist, müsste es tatsächlich „ein Schloss für Verrückte“ heißen, wie der Titel bereits paraphrasiert wurde.
„Am sechsten ist es so weit!“, klingt es durch die zwei Straßen, aus denen der Ort besteht. „Dann kommen Angie und Jacques!“ Deutsch-französische Gipfelgespräche stehen bevor, und ich wohne hundert Meter von Terrasse, Muschelsaal und Kirchvorplatz entfernt, wo sie stattfinden werden.
Ein notorisch brauner Straftäter wird rechtzeitig weggesperrt, die Pflasterung der Schlossstraße zum Abschluss gebracht. „Von sämtlichen Individuen im Sperrkreis“, also auch im Schloss und seinen Nebengebäuden, wurden die Personalien erfasst. Wo normalerweise die Autos der Schlossbediensteten und auch mein Motorrad parken, tummeln sich Herren von Bundespolizei und Bundeskriminalamt. Später werden die Ü-Wagen hier stehen. Sperrketten sind gezogen, Absperrband ist geklebt. Und wo soll ich, der ich seit Monaten meine Klamotten in der Duschwanne einweiche, meinen Wäschetrockner aufstellen?
„Hier draußen jedenfalls nicht!“, sagt Major Funke, sonnenbebrillter Chef der „Temporären Stabsstelle Rheinsberg“, den Himmel mit seinem Infrarot-Fernglas nach der Kunstflug-Bomberstaffel „Friedrich“ absuchend, die den Gästen eine kleine trikolore Einlage zum Kuchen über der Terrasse („Prinz-Heinrich-Torte“) bieten soll. Selbst eingefleischte Bombodrom-Gegner werden angesichts der Übungsflüge über Grienericksee und dem großen Obelisken zu jauchzenden Technikfreaks. „Wow!“ Noch Stunden danach schreien wir uns Begeisterung zu. Polizeihubschrauber „scannen“ unentwegt das Gelände.
Aufgrund des beeindruckend freien Schussfelds von meinen Fenstern zur Schlossterrasse hin, wo die Hohen bald sitzen werden, ist es verständlich, dass man meinen Sportbogen und die Pfeile beschlagnahmt, die bis dato dekorativ auf der Rokokokommode lagen. Für die Zeit des Besuchs werden mich gedrillte Scharfschützen heimsuchen, um die flanierenden Touristen von hier ins Visier zu nehmen, die ohne Absperrung an Kanzlerin und Gast vorbeiziehen dürfen. Ob ich da mit meiner „Waffe“ nicht behilflich sein könnte, frage ich scherzhaft, doch der Scherz zündet bei Funke nicht.
Die Schlossterrasse wird gefegt, nachdem die polnischen Fassadenarbeiter ihr Kunststück termingerecht abgeliefert haben. Die Kastellanin bearbeitet das Schlossdach höchstselbst mit dem Staubsauger – damit bloß kein Ziegelbruch in Kaffeetassen weht. Auf dem Kirchvorplatz proben ausgewählte Kinder die Blumenübergabe an Merkel und Chirac, von zwei Erziehungsberechtigten verkörpert. Hier also soll dem erlauchten Paar ein „Bad in der Menge“ eingelassen werden!
Die schmucke Kirche verschwindet hinter kackbraunen Hütten, in denen ortsansässige Kulturschaffende Marktatmosphäre simulieren dürfen. Major Funke hält mich wegen meines blauen Blazers und der kameradschaftlichen Sonnenbrille für einen Entscheidungsträger. Ich studiere ungeniert den geheimen Ablaufplan auf dem grünen Tisch: Die „Badenden“ betreten den Platz zwei Meter rechts der Taxisäule. Vor dem Denkmal mit dem Preußenadler schwenken sie nach links, von zwei Pärchen in Rokokokostümen umtänzelt. Die Presse steckt in einem Holzpferch und darf nur in einem circa anderthalb Meter breiten „Kordelgang für Bildmedien“, seitlich der „Badenden“ geführt, das Geschehen digitalisieren. Die beiden Staatenlenker treffen auf den Bierkutschenwagen und werden in Richtung braune Baracken zurückgeleitet. Auf diesem Stück warten die Schul- und Kita-Kinder.
„Und die Menge?“, frage ich Funke beiläufig. „Kontrollierte Vertreter der Bürgerschaft haben in begrenzter Zahl Zugangsberechtigung“, erläutert der Major, bevor unser beider Augenmerk auf eine brennende Bruchbude am Rand des Platzes fällt. Die Stadtwerker, mit Flammenwerfern dabei, vorwitzige Grashälmchen im Pflaster zu beseitigen, taten des Guten zu viel – was der Rheinsberger Feuerwehr Gelegenheit zu einer letzten Lockerungsübung verschafft …
Ich habe genug gesehen, doch vor allem gehört. Ich will endlich meine Ruhe haben. Vorm Knattern der Polizeihubschrauber, dem Gebell der Bombenhundestaffeln, den Sirenen der Feuerwehren umliegender Ortschaften und dem Donnergrollen der erneut anfliegenden Kunstflugjäger wird mein Motorrad ganz kleinlaut. Ich wünsche den Scharfschützen ein freies Schussfeld und flüchte in Richtung Berlin, der langweiligsten und ruhigsten Stadt der Mark Brandenburg. Ach, wie hab ich sie in den letzten gipfelstürmerischen Tagen in Rheinsberg vermisst! TOM WOLF
Tom Wolf ist derzeit „Stadtschreiber zu Rheinsberg“ im Marstall des Schlosses.
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