: Extrem laut und unglaublich voll
DAUERBESCHALLUNG Kurz vor Weihnachten läuft überall Musik. Ein österreichischer Verein misst Lärmpegel in Geschäften und verleiht einen Preis für den übelsten Zwangsbeschaller
AUS WIEN RALF LEONHARD (TEXT) UND ELÉONORE ROEDEL (ILLUSTRATION)
Jedes Mal, wenn sich die Glastür öffnet, wabert Techno-Sound auf die Mariahilfer Straße, Wiens längste Shopping-Meile. Im Inneren der Boutique Tally Weijl schaut Margit Knipp auf ihr iPhone. Sie geht durch den Laden, pinkfarbene Dekoration zu glitterbestickten Kleidchen. Neben Konfektionsware für Teenies gibt es Gebrauchsgegenstände, die junge Frauen ihrer Freundin unter den Christbaum legen. Highlight ist der Hilarious Muscle Man Corkscrew, der – na klar – einen Korkenzieher zwischen den muskulösen Beinen trägt.
Margit Knipp interessiert sich wenig für das Warenangebot. Sie notiert, was die LärmApp des Deutschen Berufsverbands der Hals-Nasen-Ohrenärzte auf ihrem Handy anzeigt. Neben der Lautstärke interessiert sie, ob es Unterbrechungen gibt. Laut Experten kann auch leise Beschallung zu Hörschäden führen, wenn sie ohne Pause auf das Ohr einwirkt. Die App zeigt an, wenn der Geräuschpegel bedenklich wird. Ab 85 Dezibel verfärbt der Monitor sich dunkelrot. 89 bis 95 Dezibel zeigt er im Eingangsbereich von Tally Weijl an. Auf der verkehrsberuhigten Mariahilfer Straße liegt der Lärmpegel bei 70 Dezibel.
Lärmschwerhörigkeit, so der österreichische Kodex zur Lärmreduktion im Musik- und Unterhaltungssektor, entsteht durch langjährige Einwirkung von Lärm über 85 Dezibel. Cvetanka Jovanovic, 22, macht sich noch keine Sorgen um ihr Innenohr. Sie arbeitet seit zwei Jahren bei Tally Weijl und würde sich ohne Musik langweilen. Auch eine Kundin, die das Geschäft nach wenigen Minuten verlässt, gibt sich gelassen: „Mich stört das nicht.“
Peter Androsch ist Musiker, hat ein feines Gehör und mag keine Dauerbeschallung. „Uns sind die Ruhezentren und die Ruheorte abhanden gekommen“, sagt er. Androsch hat in Linz den Verein Hörstadt gegründet, der von der Gewerkschaft der Privatangestellten und der katholischen Kirche getragen wird. Der Verein hat die Kampagne „Beschallungsfrei“ erdacht, die seit 2008 einen Preis für den übelsten Zwangsbeschaller des Jahres verleiht. Das von einem Nagel durchbohrte Ohr wird jeweils am letzten Einkaufssamstag vor Weihnachten vergeben. Androsch geht es um das gesellschaftliche Phänomen: „Eine Stimme haben und Gehör finden ist ein zentraler Punkt der Gesellschaft.“
Wie viel Gehör man in den Läden der Wiener Innenstadt findet, testet Margit Knipp mit ihrem Handy. Früher hat sie für das Bundeskanzleramt die Fortbildungsseminare organisiert. Heute ist sie Rentnerin, singt im Chor und engagiert sich für das Projekt Beschallungsfrei. Die Filiale Mariahilfer Straße der Schweizer Boutiquenkette Tally Weijl wurde schon 2009 mit der Trophäe ausgezeichnet. Nicht der erste Negativ-Preis: 2006 bekam die Schweizer Modekette vom feministischen Netzwerk Dafne für den Werbespruch „Tally Weijl – totally sexy“ den goldenen Phallus für sexistische Werbung zuerkannt. Auf dem dazugehörigen Plakat gewährt eine Blondine auf allen Vieren tiefen Einblick in ihr Dekolleté und blickt mit halb geöffnetem Mund nach hinten, als ob sie darauf warte, von einem Mann besprungen zu werden. Bumsende rosa Hasenpaare im Hintergrund verstärken die Botschaft.
Andere Preisträger der Zwangsbeschaller-Trophäe, wie die spanische Modekette Desigual oder Bershka, die wie Zara zur spanischen Inditex-Gruppe, dem größten Modekonzern der Welt, gehören, beschallen zwar auch mit gesundheitsbedenklichem Pegel, bleiben aber zumindest bei der Messung durch Margit Knipp unter 90 Dezibel.
Laura, 21, die sich bei Desigual um die Kundinnen bemüht, findet den Lärmpegel, dem sie täglich ausgesetzt ist, „mal so, mal so“. Nirgends sonst sei aber die Musik so abwechslungsreich. Selbst Underground bekomme man da zu hören.
Auch in Linz, Graz, Salzburg und den anderen Landeshauptstädten sind in der Vorweihnachtszeit Aktivistinnen und Aktivisten der Kampagne mit Schallpegelmessgeräten unterwegs. Der Preisträger wird erst in letzter Minute informiert. Auch weil Peter Androsch unangenehme Erfahrungen gemacht hat. Vor allem, wenn der prämierte Laden in einem Einkaufszentrum liegt. Letztes Jahr, als die Wahl auf den Laden Hollister im Salzburger Europapark fiel, rief die Geschäftsführerin die Security-Männer und ließ die Delegation mit dem hölzernen Ohr vor die Tür setzen. „Die Medien wagen es gar nicht, über solche Ereignisse zu berichten“, sagt Androsch.
In diesem Jahr wird der Preis auf einer Pressekonferenz in Wien vergeben. Vertreter des prämierten Geschäfts sind eingeladen. Die bisherigen Preisträger haben aus der Beanstandung ihrer Beschallungspolitik keine Konsequenzen gezogen, sagt Margit Knipp, deren Handy immer wieder in den gleichen Läden ausschlägt. Auf der anderen Seite schmücken sich immer mehr Geschäfte mit dem von der Kampagne vergebenen Aufkleber „Beschallungsfrei“, der beweist, dass man auch ohne dröhnende Hintergrundmusik Geschäfte machen kann.
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