: Fokusverschiebung mit Kippa unterm Hut
DEBATTE Wo schwelt der Antisemitismus – unter jungen Muslimen oder in der Mitte der Gesellschaft?
„Ich erfuhr einen Kulturschock, als ich aus dem Süden nach Berlin zog,“ sagte Rabbiner Daniel Alter. In Teilen Neuköllns und Weddings herrsche offener Antisemitismus. Vor einem Jahr war Alter in Friedenau zusammengeschlagen worden – mutmaßlich von migrantischen Jugendlichen. Auf dem Weg zum Expertendialog über Antisemitismus mit VertreterInnen von Polizei, Verfassungsschutz und Nichtregierungsorganisationen trug Alter am Montagabend einen Hut – um die Kippa zu verbergen.
Bei der Veranstaltung, zu der die Innenverwaltung geladen hatte, sollten offenbar vor allem antisemitische Einstellungen muslimischer Jugendlicher diskutiert werden. Stattdessen geriet bald die Problematik in der sogenannten gesellschaftlichen Mitte in den Fokus der Debatte.
Alter sprach von Antisemitismus in den „Hotspots“ des migrantischen Antisemitismus, erweiterte aber den Horizont: „Meine Töchter gehen in Wilmersdorf zur Schule, und auch dort ist ‚Jude‘ ein Schimpfwort.“ Die Interventionsbereitschaft von LehrerInnen sei gering.
Auch Rosa Fava vom Jüdischen Museum berichtete von antisemitischen Einstellungen bei LehrerInnen. Und Gabriele Rohmann vom Archiv der Jugendkulturen sieht bei ihnen Vorbehalte gegen Antisemitismus-Fortbildungen – es gebe eine Abwehrhaltung, die bei Themen wie Rassismus oder Rechtsextremismus nicht bestehe. Bernd Ulrich vom TU-Zentrum für Antisemitismusforschung kritisierte die Suche nach eindeutigen Trägergruppen – wie etwa muslimische Jugendliche. Über 90 Prozent der gemeldeten antisemitischen Straftaten hätten einen rechten Hintergrund.
Das sah Claudio Offenberg, Trainer beim jüdischen Fußballverein TuS Makkabi, anders. Er und seine Spieler würden regelmäßig antisemitisch bedroht – aus Vereinen mit mehrheitlich türkischen oder arabischen Spielern heraus. Manche versprächen doppelte Siegesprämien bei Spielen gegen die „verschlagenen Juden“ von Makkabi.
„Besonders für unsere Spieler mit muslimischem Hintergrund ist es ein Höllenritt“, so Offenberg, „sie gelten in ihren Communitys als Verräter.“ Selbst ein Co-Trainer syrischer Herkunft hänge sein Engagement aus Angst nicht an die große Glocke.
Deutlich wurde eines: Wissenschaftliche Diskurse helfen jemandem wie Offenberg herzlich wenig. PAVEL LOKSHIN
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen