: „Da haut sich keiner aufs Maul, da ist alles friedlich“
DER SINGENDE FAN Beim ersten Weihnachtssingen des 1. FC Union, das Torsten Eisenbeiser vor zehn Jahren organisiert hat, kamen knapp 90 Menschen zusammen. Heute singen kurz vor den Feiertagen 27.000 Fans gemeinsam in der Alten Försterei. Ein Gespräch über Smashhits, das Stadion als Kathedrale und Fußball als die bessere Religion
■ Der Fan: Torsten Eisenbeiser, 50, hat gemeinsam mit seinem Fanklub 2003 das Union-Weihnachtssingen ins Leben gerufen. Sein erstes Union-Spiel sah er 1969 – er wurde auf dem Fahrradgepäckträger zum Spiel mitgenommen. Eisenbeiser ist in Karlshorst aufgewachsen, heute wohnt er in Hohen Neuendorf nördlich von Berlin, ist verheiratet und hat drei Kinder. Er ist Angestellter eines Kaffeeunternehmens.
■ Der Fanklub: Die „Alt-Unioner“ gründeten sich am 22. 02. 2002. Sie bestehen heute aus etwa 35 Mitgliedern und haben von Beginn an das Weihnachtssingen organisiert. Der Name des Klubs spielt eher auf die lange Treue zum Verein als auf das Alter der Mitglieder an. www.alt-unioner.de
■ Das Buch: Torsten Eisenbeiser hat zum Jubiläum des Weihnachtssingens das Buch „23. 12. – neunzehn Uhr“ herausgegeben, in dem Anekdoten, Erinnerungen und Fotos von den vergangenen zehn Weihnachtssingen versammelt sind. Rund 100 Seiten, Verlag Edition Else, 10 Euro. (jut)
INTERVIEW JENS UTHOFF FOTOS CHRISTIAN THIEL
taz: Herr Eisenbeiser, Sie haben sich damals, als Sie das Weihnachtssingen gründeten, strafbar gemacht – richtig?
Torsten Eisenbeiser: Aus unserer Sicht nicht, nein.
Aber beim ersten Singen im Jahr 2003 sind Sie doch ins Stadion eingebrochen, oder?
Ich muss mal ein bisschen ausholen: Mitte Dezember 2003 war Union in einer schwierigen sportlichen Situation, wir waren 17. in der Zweiten Liga, also Vorletzter. Wir haben nur noch verloren. Unter uns Fans war die Stimmung schlecht, wir haben uns nach dem letzten Spiel des Jahres nicht mal richtig voneinander verabschiedet – eigentlich gehen wir doch immer mit einem Lächeln auseinander. Da habe ich gedacht: So sollten wir das Jahr nicht beenden.
Wie kamen Sie auf das Singen?
Es gab unter den Fans seit einigen Jahren diesen Aufruf, „An der Mittellinie wird gesungen“. Die symbolische Mittellinie war gemeint, also der Teil auf der Tribüne, der auf der Höhe der Mittellinie liegt. Dort wurden üblicherweise Schlachtrufe gesungen. Nun wollte ich, dass wir uns eben auch ohne Spiel noch mal zum Singen treffen.
Sie haben sich dann kurz vor Weihnachten verabredet.
Das Singen sollte am 23. Dezember stattfinden. Wir haben das im Internetforum unseres Fanklubs angekündigt, ich hab ein bisschen rumtelefoniert, und auch im Forum des gesamten Vereins gab es einen Eintrag „An der Mittellinie wird gesungen“. Aus dem Fanklub und aus den zusammengetrommelten Leuten haben sich dann diese 89 Leute rekrutiert, die beim ersten Weihnachtssingen dabei waren.
Und sind Sie nun ins Stadion eingebrochen?
Wie wir ins Stadion kommen, war der Knackpunkt. Ich wusste, welches Tor immer offen war, da war nie ein Schloss. Aber man musste ein zweites, größeres Tor überwinden, um ins Stadion zu kommen. Es gab dann eine Absprache zwischen mir und dem Platzwart – der hat mir gesagt: Pass auf, ich lass dir auch dieses Schloss offen. Aber einige sind über den Zaun geklettert, weil sie nicht wussten, dass sie einfach hätten durchgehen können.
Wer hat dann auf der Tribüne den ersten Song angestimmt?
Ich hab vorher im Internet ein paar Weihnachtslieder rausgesucht und die Texte kopiert. Ich hatte drei Blätter zusammengetackert, 20 Exemplare. Das war unser Gesangsbuch. Es war aber so kalt, dass nicht alle Leute, die dort waren, lange durchgehalten haben: minus 20 Grad.
Aber Sie hatten Glühwein mit.
Ja, wir haben auch erst mal nur getrunken, bis der Glühwein zur Neige ging. Dann erst haben wir angefangen zu singen.
Haben Sie dann wirklich nur Weihnachtslieder gesungen?
Nein, natürlich nicht. Fangesänge waren auch dabei: „Auf einer grünen Wiese zwei Tore aufgestellt / und zwischen diesen Toren, der schönste Platz der Welt“ war einer dieser Songs. Wir haben viele alte Union-Gesänge angestimmt und dazu die Weihnachtslieder.
Wie haben Sie das erste Weihnachtssingen empfunden?
Es war schön, weil man nach Hause ging, und keiner hatte verloren. Im Nachhinein habe ich dann noch gesehen, dass auch ein Hertha-Fan dabei war. Ich bin am nächsten Tag natürlich noch mal ins Stadion, um nachzusehen, ob wir alles sauber hinterlassen haben. Da habe ich dann einen Personalausweis und eine Mitgliedskarte aus Charlottenburg gefunden. Die habe ich dann Heiligabend auch noch diesem Hertha-Fan, einem Jugendlichen, zurückgebracht.
Haben Sie ihm übel genommen, dass er gekommen war?
Nein, überhaupt nicht. Er war mit Union-Fan befreundet. Es sind ja bis heute Fans anderer Vereine dabei.
Was war Ihr Highlight beim ersten Singen?
Die Unorganisiertheit. Man hat gequatscht und sich gefreut, und später ging es erst ums Singen.
Wie sieht das Programm mittlerweile aus?
Zuerst kommen die Bläser, die spielen, während Einlass ist. Mittlerweile wird das Vorprogramm mit Glockenspiel eingeleitet. Ansonsten singen wir fast immer die gleichen Weihnachtslieder. Und der Pfarrer [Pfarrer Peter Müller aus Köpenick; d. Red.] liest die Weihnachtsgeschichte und betet. Das gehört für uns alles dazu.
Es ist ja mittlerweile beim Weihnachtssingen so, dass man denkt, die Alte Försterei würde für einen Tag zum Gotteshaus. Was hat dieses Stadion denn von einer Kirche?
Es ist der Verein selbst, der leuchtet. Es gibt für mich und für viele andere, die diesen Verein lieben, nichts Vergleichbares. Solange ich lebe, werde ich diesen Verein lieben. Union ist unsere Familie. Deshalb verabschiedet man sich beim Weihnachtssingen auch von der großen, der Fußball-Familie und geht zur kleineren Familie. Man kann leider nicht mit 27.000 Menschen zuhause unterm Weihnachtsbaum sitzen.
Wieso 27.000? Im vergangenen Jahr kamen 22.500 Sänger. Ich dachte, viel mehr passen gar nicht rein.
Wir können in diesem Jahr die kürzlich fertig gestellte Haupttribüne vollständig mit nutzen. Damit haben wir eine Gesamtkapazität von 27.000 Besuchern. Und wenn um 18.30 Uhr dort 27.000 Menschen sind, dann ist Schluss. Dann kommt keiner mehr rein.
Sie erwarten, dass es voll wird?
Ja.
Woher kommt diese 27.000 Menschen?
Es kommen nicht nur Berliner, sondern es reisen Leute aus ganz Deutschland an. Ich bekomme Mails aus dem Rheinland, aus dem Badischen, von den Nordseeinseln. Mittlerweile kommen Leute sogar extra aus dem Ausland. Es ist auch schön, dass es nicht nur Union-Fans sind. Der Weihnachtsmann ist zwar rot-weiß, deshalb ist er schon mal Unioner. Aber viele Union-Fans bringen ihre Freunde, Tanten, Mütter und so weiter mit.
Waren Sie die ersten, die als Fans das Weihnachtssingen eingeführt haben?
Es gibt mittlerweile auch andere Vereine, die das machen. Bei 1860 München etwa nennt es sich Adventssingen, ist aber ähnlich. Auch in Aachen wird es das in diesem Jahr geben.
Gibt es auch mal Ärger bei einer solch großen Veranstaltung?
Einen Tag vor Weihnachten eine solche Großveranstaltung zu machen, da sagen doch alle: Wie bekloppt muss man sein? Aber wenn sie bei uns waren, wundern sie sich meistens: Da haut sich keiner auf’s Maul, da ist alles friedlich. Es ist Friede, Freude, Eierkuchen, alle gehen mit einem guten Gefühl nach Hause. Die Leute steigen in die Straßenbahn und singen sogar dort noch weiter.
Im vergangenen Jahr war „An der Alten Försterei“ der Straßenbahn-Smashhit.
Das ist doch das Schöne. Im normalen Berufsverkehr oder in den öffentlichen Verkehrsmitteln nölen sich doch alle nur an. Unsere Botschaft ist angekommen.
Haben Sie selbst ein Lieblingsweihnachtslied?
Ich bin kein gläubiger Mensch. Ich glaube nicht an Gott. Trotzdem habe ich ein Weihnachtslied, das ich gerne mag und das auch sehr typisch ist: Stille Nacht, heilige Nacht. Damit enden ja auch die meisten Weihnachtsgottesdienste.
Und haben Sie ein Lieblings-Fanlied?
Seit letztem Jahr ist es die Umdichtung von „An der Weihnachtsbäckerei“. (Singt): An der Al-ten För-ste-rei...
Hatten Sie seit jeher eine Beziehung zum Singen?
Naja, in unserer Kindheit gab es immer irgendwelche Sängerwettstreite, da habe ich mich nicht gescheut. Während der Armeezeit habe ich dann in einer Sängergruppe mitgemacht.
Sie haben das Singen mal gegründet, um „besinnlich“ in die Feiertage zu gehen. Ist das Singen trotz der Größe der Veranstaltung noch besinnlich?
Doch, ich spüre schon noch eine dicke Gänsepelle, wenn ich alle zusammen singen höre. Für mich ist das besinnlich.
Ist der Aufwand mit den Jahren für einen Fanklub nicht zu groß geworden?
Manche sagen mir schon, die Sache wäre zu sehr gewachsen, wir sollten die Organisation an den Verein abgeben. Das war auch mal so gedacht, aber dann war ich am Ende doch wieder eingebunden. Wir veranstalten von unserem Fanklub auch Drachenbootrennen, Bowling, Skatspielen und solche Sachen. Das organisiert alles nicht der Verein, sondern verrückte Unioner. Die, die etwas mehr rot-weiße Blutkörperchen haben als andere Menschen.
Sie sprechen von ‚Verrückten‘. Erklären Sie doch mal jemandem, der gar nichts mit Fußball am Hut hat, wie diese Identifikation mit dem Verein zustande kommt.
Meine Generation kennt den 1. FC Union aus der Vorwendezeit. Die Alte Försterei war schon immer ein sehr lautes Stadion. Man war sehr nah an den Spielern. Um guten Fußball ging es nicht primär: Damals kamen die Spieler zu Union, die woanders nicht mehr unterkamen. Nicht gerade die filigransten Spieler – sonst wären sie gar nicht zu Union gekommen.
Das heißt, man war schon deshalb verrückt, weil man sich einem erfolglosen Klub anschloss?
Früher haben wir trotzdem gefeiert, auch, wenn wir mal 4:0 verloren hatten. Weil man merkte, dass die Spieler alles gaben: Kratzen, beißen, zwicken. Viele Stadien damals waren Leichtathletik-Stadien, bei Union war das damals schon anders, es gab keine Laufbahn. Es ist bis heute so: Wenn du unten am Zaun stehst, dann riechst du die Spieler. Wenn nicht gerade einer ‘nen Joint oder ‘ne Zigarre raucht, riechst du die. Und du siehst den Schweiß auf der Stirn der Spieler, du siehst ihn runterrinnen.
Und der Linienrichter hört die Beleidigungen der Fans.
Ja, und der schnappt sogar die Richtung auf, aus der das kam. Die Sau rauslassen, das gehört schon dazu.
Ist Fußball vielleicht die bessere Religion?
Ja, vielleicht. Weil es nur um das Tatsächliche geht. Das, was man sieht und was man wahrnimmt. Man sieht, was man mit Kampf erreichen kann. Und wenn die Mannschaft merkt, dass die Fans hinter einem stehen, egal wie es steht, ist es für das Team schön. Sie merken, dass wir uns freuen, wenn sie unser Emblem auf der Brust tragen und sich für uns den Arsch aufreißen. Als Fan kann man direkt Einfluss nehmen.
Gibt es trotzdem auch Dinge am Fansein, die Sie richtig aufregen?
Manchmal schwillt mir schon der Kamm, sogar in meinem Alter. Nicht unbedingt in der Auseinandersetzung mit anderen Fans, sondern eher mit der Polizei. Das geht nicht gegen die einzelne Person – die kann nichts dafür, dass sie an dem Tag Dienst hat. Aber wenn die da schon mit runtergeklappten Visieren stehen, erzeugt das oft von vornherein Aggression. Und es gibt einfach auch viele Aktionen der Polizei, die willkürlich und völlig sinnlos sind.
Nun könnte man ja sagen, dass Union nach dem ersten Weihnachtssingen vor zehn Jahren sogar noch abgestiegen ist – das Singen hat also nichts gebracht. Warum ging es trotzdem weiter damit?
Wir haben ja sogar die Liga noch mal nach unten gewechselt danach. Trotzdem: Wir singen immer, wir supporten immer. Wir sind Fans, die seit vielen, vielen Jahren zu Union gehen und gemeinsam Auswärtsfahrten unternehmen.
Warum ist Union für Sie und die anderen Fans der beste Klub der Welt?
Es gibt Vereine, die ein bisschen anders ticken in Deutschland – und ich denke, Union gehört dazu. Es gibt einige Spieler und auch viele Fans, die dieses Logo und diesen Verein bis zum Lebensende in ihrem Herzen tragen werden.
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