piwik no script img

Die praktische Umsetzung des Glaubens

Panter-Kandidatin (2): Die 80-jährige Sabine Ball kümmert sich seit 1993 um Kinder und Jugendliche in Dresden

An dieser Stelle porträtieren wir jeden Samstag eineN von neun KandidatInnen für den taz-Panter-Preis.

Im Aufenthaltsraum des Stoffwechsel-Treffs in der Dresdner Neustadt wird emsig geknetet und gebastelt. Fünf Kinder im Alter von sieben bis zehn Jahren sind heute hierher gekommen, um unter der Anleitung einer Töpferin kleine kreative Werke herzustellen. Im selben Haus, ein Stockwerk über den Kindern, wohnt Sabine Ball, die Gründerin des Vereins Stoffwechsel. Seit 1993 bemüht sie sich, die Not von vernachlässigten Kindern und Jugendlichen zu lindern und ihnen eine Perspektive für die Zukunft zu bieten.

Sabine Ball ist 80 Jahre, sie trägt unter einem blauen Kleid eine weiße Bluse, eine rote Stoffblume steckt auf ihrem hochgeschlossenen Kragen. Zudem hat sie Lippenstift und Lidschatten aufgetragen, ganz dezent, und serviert Kaffee und Gebäck in ihrem Wohnzimmer. Auf einer Bank liegen zwei blaue Kissen, beide bestickt mit einem Spruch: „Vater, lass die Augen dein, über meinem Bette sein“. Sabine Ball ist Christin, ihr Glauben motiviert sie, jungen Menschen zu helfen.

„Das war aber nicht immer so, ich war 46 Jahre meines Lebens nicht gläubig“, erklärt sie. Ganz im Gegenteil: „Nur ich selbst war mir wichtig.“ Und sie zählt die Stationen ihres Lebens auf: Sabine Ball wurde 1926 in Königsberg geboren, kam als 15-Jährige nach Dresden, wo sie im Februar 1945 die Bombardierung der Stadt erlebte. Neun Jahre später verließ sie Deutschland, um in den USA eine Ausbildung zur Hotelfachfrau zu machen. In einem Yacht-Club in Miami Beach, in dem sie arbeitete, lernte sie ihren künftigen Mann kennen, den Sohn eines Multimillionärs. „Ich habe das Leben in Luxus und Sicherheit sehr genossen“, gibt sie zu, vielleicht auch, weil ihre Familie im Krieg alles verloren habe. Doch die Ehe scheiterte.

Sabine Ball zog mit ihren beiden Söhnen nach Kalifornien und gründete in Mendocino eine Hippie-Kommune. „Ich wollte raus aus dieser Cocktail-Gesellschaft. Ich suchte nach Werten.“ Sie beschäftigte sich mit dem Buddhismus, verbrachte einige Monate in Indien, aber die erhoffte Erleuchtung blieb aus. „Ich war eine Suchende“, sagt Sabine Ball nachdenklich. Im Zuge der Jesus-Bewegung in den USA setzte sie sich ausgiebig mit der Bibel auseinander und wurde schließlich zur bekennenden Christin.

1991 kam sie nach Deutschland, um in Bautzen ein Jahr Gefängnisarbeit zu leisten. Eigentlich wollte sie danach wieder in die USA zurückkehren. Doch als sie eines Tages durch die Dresdner Neustadt ging, sah sie junge Menschen, die mehr oder weniger auf der Straße, in den zerfallenen Gebäuden lebten. „Es gab nur chaotische Plätze für Jugendliche, Alkohol und furchtbar viele Drogen“, erinnert sich Sabine Ball, die immer noch mit einem leichten amerikanischen Akzent spricht. Sie beschloss kurzerhand, in ihrer Heimat zu bleiben und sich um die Dresdner Jugend zu kümmern. „Gott wollte mich hier haben“, erklärt Sabine Ball. Sie spricht ruhig und besonnen, dennoch haben ihre Sätze Vehemenz.

Von ihrem Vermögen waren ihr gerade noch 1.500 Dollar geblieben; also zog sie los, von Kirchengemeinde zu Kirchengemeinde, um für ihre Idee zu werben. 1993 war es so weit: In der Martin-Luther-Straße eröffnete Sabine Ball ein Café, in dem Jugendliche umsonst essen und sich aufhalten konnten, und einen Secondhand-Laden. Sie nannte den Ort „Stoffwechsel“, im körperlich anregenden Sinn sowie im Hinblick auf die Klamotten, die es günstig zu kaufen gab. Den Secondhand-Land gibt es heute nicht mehr, dafür eine kleine Unterhaltungs- und Betreuungsindustrie für die Dresdner Jugend: In der Neustadt treffen sich Kids und Teenies in unterschiedlichen Gruppen zum Spielen, Basteln und Reden, im Problemkiez Pieschen gibt es neben einem Kinder- und Jugend-Treff zudem eine Werkstatt. In Dresden-Reick wird gerade ein Abenteuerspielplatz aufgebaut. Willkommen sind alle – Kinder aus zerrütteten Verhältnissen ebenso wie Kinder aus intakten Familien, die Spaß und Anregungen suchen. Außerdem werden zurzeit Pläne geschmiedet, eine Wohngemeinschaft auf dem Land zu gründen, für jugendliche Straftäter und ehemalige Drogenabhängige.

Mittlerweile sind im Stoffwechsel 16 hauptamtliche und 60 ehrenamtliche Mitarbeiter beschäftigt. „Wir arbeiten auch mit dem Jugendamt und dem Arbeitsamt zusammen, um den Jugendlichen Angebote für ihre berufliche Zukunft machen zu können“, erklärt Ralf Knauthe, der inzwischen zum Gespräch dazugekommen ist. Seit November 2005 hat der Sozialarbeiter die Leitung des Vereins übernommen. Gemeinsam mit Sabine Ball berichtet er von den Schicksalen einiger Heranwachsender, die im Stoffwechsel Hilfe fanden.

Von Nicole zum Beispiel. Sie ist im Heim groß geworden, war drogenabhängig, hat früh zwei Kinder von unterschiedlichen Männern bekommen. Mit Hilfe des Stoffwechsel-Teams macht sie nun eine Drogen-Entzugstherapie. Oder Steffi, die mit 14 Jahren in die Stoffwechsel-Wohngemeinschaft zog, weil sie es bei ihrer Mutter und deren alkoholabhängigem Mann nicht mehr aushielt. Eine Stoffwechsel-Mitarbeiterin wurde zu ihrem gerichtlich anerkannten Vormund; heute arbeitet Steffi selbst als Sozialassistentin.

Drogen, Alkohol, Kriminalität, Einsamkeit und vor allem: Perspektivlosigkeit – Sabine Ball und ihr Team wollen die Probleme der jungen Menschen lösen. „Wir selbst sind Christen, sind aber offen gegenüber Kindern anderer Religionen und Weltanschauungen“, erklärt Sabine Ball. „Wir nehmen sie an, weil jeder vor Gott wertvoll ist.“ Sie wird oft die „Mutter Teresa von Dresden“ genannt. Der Vergleich behagt ihr aber ganz und gar nicht: „Oh no“, rutscht es ihr, darauf angesprochen, mit einer sehr amerikanischen Aussprache heraus. Mit Mutter Teresa habe sie höchstens das Zutrauen zu Gott gemeinsam. „Mein Einsatz ist nichts anderes als die praktische Umsetzung meines Glaubens.“ JUTTA HEESS

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen