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Die Parallelgesellschaft

UTOPIE Ein junger Mann hat eine Idee. Er geht damit an einen der dunkelsten Orte des Internets und wird dort fast zum sechsfachen Mörder. Kann ausgerechnet dieser Mann uns den Glauben an ein freies Netz zurückgeben?

Drei Schritte ins Darknet

1Laden Sie sich am besten den Tor-Browser herunter und installieren ihn: www.torproject.org. Sie finden auf der Seite einige Erläuterungen, wie man surft, ohne Spuren zu hinterlassen. Natürlich funktioniert der Tor-Browser auch fürs „Clearnet“, das sichtbare Internet.

2 Suchen Sie über den Tor-Browser das „Hidden Wiki“, eine Überblicksseite, die viele Darknet-Websites auflistet. Achten Sie darauf, dass die Seite aus wirren Buchstabenzahlenkombinationen besteht und auf .onion endet und nicht auf .com, .org oder .de. Etwa: kpvz7ki2v5agwt35.onion.to/wiki/

3Wählen Sie Ihre erste Seite an, vielleicht nicht gerade einen Waffenladen. Achten Sie darauf, nichts herunterzuladen und auf Ihrer Festplatte zu speichern und bleiben Sie auch sonst misstrauisch. Bitcoins können Sie über Seiten wie bitcoin.de oder localbitcoins.com kaufen. Haben Sie die erworbenen Münzen in einer digitalen Geldbörse, einem Wallet, abgelegt, kann das Geld per Klick sekundenschnell überwiesen werden. Bezahlt man etwas, wird der Betrag so lange auf einem Konto des Online-Shops zwischengelagert, bis die Ware geliefert ist. Dann gibt der Käufer das Geld für den Händler frei. Fragen zu Bitcoins: bitcoin.org

AUS DEM DARKNET JOHANNES GERNERT (TEXT) UND SOPHIA MARTINECK (ILLUSTRATION)

Am 27. Januar 2011 beginnt der Grausame Pirat Roberts, sein Reich zu errichten. Er wirbt dafür in mehreren Onlineforen, auch in einem für halluzinogene Pilze. Als „anonymes Amazon“ beschreibt er die Seite Silk Road, die er gerade geschaffen hat. Man könne dort verschiedenstes „Zeug“ kaufen, auch Drogen. Der Grausame Pirat beschreibt den Weg zu der neuen Seidenstraße.

In seinem Reich zählen weder die Namen, die in Pässen stehen, noch die Währungen, mit denen Banken handeln. Es gibt eine eigene Währung und eigene Namen. Im Buchklub diskutiert man libertäre Theorien und liest gemeinsam Werke über den autoritären Staat eines George W. Bush, der zum autoritären Staat eines Barack Obama geworden ist. Es ist der Staat, den der Grausame Pirat Roberts herausfordern will. Was wäre, fragt er sich, wenn es gelänge, eine Sphäre zu schaffen, die frei von Gewalt ist, vor allem von staatlicher Gewalt?

Das Vertrauen auf der Silk Road entsteht allein durch den Handel. Durch prompte Lieferung. Und durch die Qualität des gelieferten Kokains, des Marihuanas oder Amphetamins, der Tabletten oder des Heroins. Etwa 150.000 Akteure treffen sich zwischenzeitlich auf diesem Marktplatz.

Der Grausame Pirat nennt sich auch Captain. Und: Administrator. Er taucht auf der Silk Road als die Silhouette eines maskierten, schwarzen Mannes auf, mit gestrecktem Degen. 65 Pixel breit, 42 Pixel hoch. Die Figur des Piraten hat er sich aus dem Märchen „Die Brautprinzessin“ entliehen.

Der Pirat meldet sich häufig zu Wort. Auch als im November 2012 nach einem Zusammenbruch der Seite das Gerücht kursiert, er habe sich mit all dem Geld abgesetzt: „Mir ist völlig bewusst, dass dieser ganze Markt auf dem Vertrauen basiert, das ihr in mich setzt. Ich nehme das sehr ernst. Es ist mir eine Ehre, euch zu dienen, und obwohl ihr nicht wisst, wer ich bin, und obwohl ihr keine Entschädigungsansprüche habt, wenn ich euch verraten sollte, hoffe ich trotzdem, dass ich im Laufe der Zeit noch häufiger Gelegenheit haben werde, euch zu beweisen, dass meine Absichten aufrichtig sind und kein Geld der Welt mich bestechen kann.“

Ein Mitbewohner in der Dreier-WG des Grausamen Piraten Roberts in San Francisco, der ihn nur als „Josh“ kennt, wird später erzählen, Josh habe immer zu Hause am Computer gesessen.

1,2 Milliarden Dollar Umsatz hat die Plattform Silk Road in knapp zweieinhalb Jahren erwirtschaftet. Fast 80 Millionen Dollar gingen als Kommission an den Grausamen Piraten Roberts, ihren Betreiber. Bezahlt wurde nicht in Dollar, sondern in der rein elektronischen Währung der Bitcoins.

Die Silk Road ist einer der größten Drogenumschlagplätze in den Tiefen des Netzes. Im Darknet, jenem Teil des Internets, den die Suchmaschine Google nicht anzeigt, wo nicht nur Drogen gehandelt werden, sondern auch Waffen.

Ja, schön, können Sie jetzt sagen. Was es nicht alles gibt. Aber was hat dieser komische Grausame Pirat bitte mit mir zu tun?

Der junge Mann, den das FBI für diesen Grausamen Piraten hält, heißt Ross Ulbricht. Er ist 29 Jahre alt, hat in Austin, Texas, Physik studiert und danach die Firma Good Wagon Books gegründet, die gebrauchte Bücher sammelte und wieder verkaufte.

Ulbricht hat ein freundliches Gesicht, in das eine dunkelblonde Haartolle hineinhängt, ein bisschen wie bei Elvis. Er scheint diese Tolle auch in den verschiedenen Gefängnissen behalten zu haben, in denen er seit seiner Festnahme am 1. Oktober 2013 saß. Das zeigt eine Gerichtszeichnung. Zurzeit sitzt er im Brooklyn Detention Center in New York.

Wochenlang war auf der Homepage der Silk Road nur eine Nachricht zu lesen: „Diese verborgene Seite ist konfisziert worden.“ Darüber Logos des FBI und des Justizministeriums.

Die Freilassung Ross Ulbrichts gegen eine Million Dollar Kaution hat ein Richter abgelehnt.

Die Staatsanwaltschaft wirft ihm vor, sechs Morde in Auftrag gegeben zu haben.

Das Internet hat in der jüngsten Zeit einige Ikonen geschaffen. Da ist der egomane Aufklärer Julian Assange, ein Luther mit weißem Haar. Bradley Manning, der kleine US-Soldat, der nicht mehr schweigen wollte. Edward Snowden, der Spion mit dem Jungengesicht, der den größten Geheimdiensten der Welt den Krieg erklärt hat.

Und Ross Ulbricht, der Schwerkriminelle? Auch so ein Mann, der jung wirkt, aber doch schon ein Pate der Halbwelt ist, des digitalen Graubereichs. Es spricht viel dafür, dass auch er in die Annalen des Internet eingeht, als Grausamer Pirat. Als Kämpfer für eine digitale Welt, in die Überwacher nur schwer eindringen können.

Im Sommer 2013, als Edward Snowden die Welt mit seinen NSA-Erkenntnissen aufgeschreckt hatte, meinten 66 Prozent der deutschen Internetnutzer, ihre Daten seien nicht sicher. Im November waren es laut dem Branchenverband Bitkom schon 80 Prozent. Sie fühlen sich der Umfrage zufolge bedroht – vom Staat mittlerweile noch mehr als von Cyberkriminellen.

Wenn man entsetzt ist, wie die 562 Schriftsteller, die sich vor Weihnachten weltweit mit einem Aufruf gegen die Überwachung zu Wort gemeldet haben. Wenn man auf einen anderen Aufruf stößt, den acht der wichtigsten Internetkonzerne der Welt gestartet haben. Und wenn man dann darüber nachdenkt, dass das exakt dieselben Konzerne sind, die so viel wie möglich von ihren Nutzerinnen wissen wollen, ohne ihnen zu verraten, was sie schon alles über sie wissen: Dann scheint es plötzlich keine völlig absurde Idee mehr, sich einen ganz anderen Ort zu suchen. Einen, an dem weder die Konzerne noch der Staat jede Spur registrieren können, die man hinterlässt. Jede Nachricht, die man schreibt. Jedes Buch, das man kauft.

Wenn in einer überwachten Online-Welt jeder ohnehin als potenzieller Verbrecher gilt, muss man sich dann vielleicht einfach verhalten, als wäre man ein Drogenbaron?

Das Darknet, es leuchtet am Ende dieses Jahres fast wie die Milchstraße. Wie der letzte verbliebene Schutzraum, in dem Anonymität noch etwas zählt.

Ross Ulbrichts Familie betreibt eine Webseite für ihn, die freeross.org heißt und auf der er wie ein politischer Gefangener präsentiert wird. Mit vielen Bildern, die ihn beim Klettern zeigen, beim Rudern, mit Freunden. Er lächelt meist. Seine Freunde, seine Verwandten beschreiben ihn auf dieser Seite und in Gerichtsakten als freundlich, gütig, wohltätig. „Er ist ein loyaler und liebevoller Freund, schon seit unserer Kindheit. Die Geschichte ergibt für uns einfach keinen Sinn“, schreibt eine Freundin über Facebook.

Je länger man den Fall des Grausamen Piraten Roberts rekonstruiert, je länger man all die Darknet-Seiten sichtet, desto mehr scheint darin eine Chance auf: Dass 2014 zum Jahr der digitalen Mündigkeit werden kann, des digitalen Ungehorsams. Man muss sich dafür auf die Instrumente konzentrieren, die der Pirat genutzt hat. Das Tor-Netz, die Bitcoins.

Tor? Bitcoins? Das kommt Ihnen hier langsam vor, als wären Sie in die Informatik-AG geraten, in die sie doch in der Schule schon nicht wollten? Nie davon geträumt, ein Pirat zu sein, eine Piratin? Wie Johnny Depp?

Am Anfang der Geschichte vom Grausamen Piraten steht eine seltsame Onlineadresse: tydgccykixpbu6uz.onion. Die erste Anschrift der Silk Road. Darknet-Seiten wie diese lassen sich nur mit einem speziellen Browser öffnen, dem Tor-Browser. Tor steht für: The Onion Router. Das Projekt sorgt dafür, dass man im Internet surfen kann, ohne die eigene Identität preiszugeben. Man muss nur die Tor-Software herunterladen. Der Rest läuft wie mit anderen Browsern, meist nur etwas langsamer.

Viagra, iPhone – oder eine Walter PPK für 600 Euro

Normalerweise wird eine Seite wie google.de direkt aufgerufen, die Anfrage vom eigenen Computer – zeig mir google.de – landet auf dem Google-Server und die Webseite mit ihrem Suchschlitz erscheint auf dem Bildschirm des Rechners. Ruft man google.de über den Tor-Browser auf, werden die Daten über mehrere Rechner umgeleitet. Google kann jetzt nicht mehr feststellen, von welchem Computer die Suchanfrage stammt.

Weil mehrere Schichten von Verschlüsselungen um die Daten gelegt werden, haben die Entwickler den Namen Onion-Router gewählt. Onion wie Zwiebel. So hilft Tor auch Menschen in China oder dem Iran, das Internet unzensiert zu nutzen.

Der Eingang zur Online-Parallelwelt des Darknet ist für viele das „Hidden Wiki“. Weil Google das Darknet nicht zeigt, werden seine Seiten über Adressverzeichnisse wie dieses weiterempfohlen. Über das „Hidden Wiki“ kann man an US-Pässe für 10.000 Dollar genauso gelangen wie an Auftragsmörder. Und nie weiß man genau, was einem Angst einjagen muss, was Spaß ist oder der Versuch, Möchtegernkriminelle abzuzocken. Es gibt Grasläden und Elektroläden. Man kann Viagra kaufen, das iPhone 5S, Twitter-Follower, die Dienste von Hackern oder eine Walter PPK für 600 Euro.

Die Seiten wirken oft wie aus den Urzeiten des Internets. Wenige Bilder, viel Schrift, die Waren häufig schummrig selbst fotografiert. Daneben kann man sich durch Foren klicken, in denen übers Hacking diskutiert wird, über ökonomische Theorien oder die Frage, ob Fernsehen verdummt.

Es gibt Seiten wie Code:Green, ein Forum für Hacker-Aktivisten, wo am Tag nach der kroatischen Abstimmung gegen die Homo-Ehe ein gewisser Vukovinski sagt, er sei von der Lesben- und Schwulenbewegung Kroatiens, er suche jemanden, der die Seite der Homo-Ehen-Gegner hackt. Auch in den Foren der Silk Road wird diskutiert. Neuester Beitrag: „Lasst Ross Ulbricht frei, ihr Nazischweine, euer Drogenkrieg tötet Menschen.“

Das Reich, das der Grausame Pirat Roberts mit seiner Silk Road schafft, ist ein Gegenentwurf zu den Imperien von Amazon oder Facebook. Auf Facebook soll jeder Mensch ein Gesicht haben. Man sieht das eigene unter den Kommentaren von anderen, man interagiert, produziert Daten, macht sein Surfverhalten nachvollziehbar. Verwertbar. Auch Google will jedem Nutzer über das Netzwerk Google+ möglichst ein Gesicht verleihen. Amazon zeichnet mit seinen Algorithmen manchmal noch klarere Nutzerbilder.

Auf der Silk Road gibt es keine Gesichter, sondern Bilder von Piraten, von Clowns oder Bob Marley. Es ist der Versuch, Vertrauen anders aufzubauen als über Porträtfotos und Vor- und Nachnamen.

Das Darknet lässt sich nicht in Schwarz und Weiß zeichnen, es ist grau, unbestimmt. Es ist nicht die schwarze Hölle, die sich vom weißen Rest des Internets abgrenzen lässt, den Google dominiert. Es birgt eine Unsicherheit, die uns voranbringen kann, weil sie weniger trügerisch ist als die Google-Idylle, die so hell scheint.

Am 23. März 2013 wendet sich Ross Ulbricht an „redandwhite“ – so nennen sich Mitglieder des Rockerclubs Hell’s Angels – und bittet ihn, den Silk-Road-Nutzer „FriendlyChemist“ umzubringen, der ihn erpresse. Er schickt eine kanadische Anschrift. „Friendly Chemist“ drohe, die Identität von Tausenden Silk-Road-Kunden preiszugeben. „Dieses Verhalten ist unverzeihlich. Vor allem hier, auf der Silk Road, ist Anonymität sakrosankt.“ „redandwhite“ macht Ulbricht auf einen weiteren Händler aufmerksam, „tony76“, der auch hinter der Erpressung stecke. Der vermeintliche Hell’s Angel teilt Ulbricht nun mit, dass „tony76“ mit drei anderen zusammenlebe. Wenn sie nur ihn töteten, könnten sie weder Geld noch Drogen sichern. Ulbricht zahlt daraufhin 500.000 Dollar für „alle vier“. Am 15. April schreibt „redandwhite“: „Das Problem ist erledigt.“

Es ist nicht das erste Mal, dass der Grausame Pirat Roberts jemanden beauftragt hat, zu töten.

Schon im Januar 2013 wendet er sich an einen anderen Nutzer der Silk Road. Ein Angestellter habe 350.000 Dollar gestohlen. Er bittet, ihn zusammenzuschlagen und das Geld zurückzuholen. Als Ulbricht erfährt, der Angestellte sei festgenommen worden, und fürchtet, er verpfeife ihn, wandelt er den Auftrag um: „lieber Exekution statt Folter“. Er zahlt 80.000 Dollar – und erhält Fotos vom Ermordeten.

„Es kotzt mich an, dass ich ihn umbringen musste“, schreibt Ulbricht im privaten Chat. „Aber was sein muss, muss sein.“

Als FBI-Agenten Ross Ulbricht am 1. Oktober 2013 festnehmen, sitzt er am Laptop in einer öffentlichen Bibliothek in San Francisco. Ein blasser Typ in Jeans und T-Shirt. Bevor die FBI-Männer ihn ans Fenster pressen und dann mitnehmen, verwaltet er die Silk-Road-Seite, verfolgt Geldströme und chattet. Das alles ergibt sich aus Gerichtsakten und Zeugenaussagen.

Am Ende stellt sich heraus: Es ist niemand getötet worden. Der vermeintliche Auftragsmörder war ein Undercover-Agent, die Fotos sind gestellt. Auch in Kanada, stellt das FBI fest, wurde keine Leiche gefunden.

Was die Ermittler jedoch auf Ulbrichts Laptop finden, ist ein Tagebuch. Als eines der wichtigsten Ereignisse des Jahres 2010 hält Ulbricht darin fest: „Ich fing an, an einem Projekt zu arbeiten, das ich mehr als ein Jahr lang im Kopf gehabt hatte. Ich nannte es zuerst Underground Brokers, später Silk Road. Ich wollte eine Webseite schaffen, auf der Menschen anonym einkaufen können, ohne eine einzige Spur zu hinterlassen, die zu ihnen zurückführen könnte.“

Um die Untergrund-Plattform zum Laufen zu kriegen, bietet er etwas an, das man woanders nicht bekommt. Er züchtet in einer Hütte Magic Mushrooms, halluzinogene Pilze.

Ross Ulbricht will eine Online-Welt schaffen, die frei ist von Gewalt, und übersieht dabei offenbar lange, dass der Handel mit Drogen Menschen anzieht, deren Geschäft die Gewalt ist.

Es muss ihm irgendwann schwerfallen, von seinem WG-Zimmer aus den Bezug zur Realität da draußen zu bewahren. Er kenne selbst seine engsten Berater nicht persönlich, schreibt er einem Journalisten. Ob seine Freundin wisse, dass er der Grausame Pirat Roberts sei, fragt ihn jemand im Chat. Sie werde das unter gar keinen Umständen erfahren, antwortet Ulbricht. „Vielleicht nie.“ Er ist gut darin geworden, Dinge zu verbergen. Und scheint vergessen zu haben, dass er kein Computerspiel spielt.

In einem anderen Tagebucheintrag vom 28. März 2013 steht eine Art To-do-Liste: „Bei den Angels die Ermordung des Erpressers in Auftrag gegeben“. Und wenige Tage später: Erpresser exekutiert.

730.000 Dollar habe Ulbricht ausgegeben, um sechs Menschen umbringen zu lassen, stellt ein Richter in einem Schreiben vom 20. November fest. Er könne deshalb nicht auf Kaution frei kommen.

Alle scheinen überlebt zu haben. Der Verdacht liegt nahe, dass Ulbricht mehrfach genarrt worden ist. Von einem Undercover-Ermittler – und von „redandwhite“, der mit den Hell’s Angels vielleicht gar nichts zu tun hatte.

Aber Ulbricht wollte die Morde. Aus Gier? Aus Paranoia?

Er geht den Weg eines Gesetzlosen. Und als er begreift, dass auf manchen Schwarzmärkten nicht nur die Firmen liquidiert werden, sondern auch Menschen, geht er weiter. Er macht mit.

Dass das FBI zwei Jahre brauchte, um Ulbricht zu finden, liegt auch an der Währung, die den anonymen Handel erst ermöglicht.

Jetzt also die letzte Informatiklektion: Bitcoins sind im Jahr 2009 entstanden. Ausgedacht hat sie sich ein Japaner namens Satoshi Nakamoto, von dem weder klar ist, ob er Japaner ist, noch ob er Satoshi Nakamoto heißt.

Im Gegensatz zu klassischen Währungen wie Euro oder Dollar, die von Banken herausgegeben werden, entstehen Bitcoins, indem extrem leistungsfähige Computer Rechenprobleme lösen – mit einem Programm namens Bitcoin-Miner. Am Ende der gelösten Rechnung stehen neue digitale Münzen. Sie werden mit komplizierten Verschlüsselungen also gewissermaßen digital gedruckt. Die Bitcoins wiederum kann dann jeder für Euro oder Dollar kaufen. Man muss sich dafür nur eine Online-Geldbörse anlegen, ein Wallet. Mit dieser Geldbörse kann man Shoppen gehen. Alles völlig ohne Banken – und ohne Angabe seines echten Namens.

Bitcoins sind vor allem eine politische Idee: Es geht ohne Banken, ohne Staat.

Die einzige zentrale Instanz der Bitcoin-Währung ist ein Verzeichnis, in dem jede Transaktion festgehalten wird. Es heißt Blockchain. Über dieses Verzeichnis konnten die Ermittler nachweisen, dass ein „redandwhite“ die Summe überwiesen bekam, die er mit Ross Ulbricht vereinbart hatte.

Zentralbanker und Unternehmenschefs haben Bitcoins lange ignoriert. In jüngster Zeit allerdings sprechen sich einige von ihnen für die Währung aus. Zuletzt etwa der Chef des Bezahl-Dienstleisters Paypal. Bitcoins funktionieren ohne aufwendige Überweisungen. Der Kurs schwankt allerdings stark. Im Frühjahr lag er noch um die 100 Dollar, im Herbst erreichte er 1.000 Dollar – um dann wieder zu fallen.

Das Darknet, das Tor-Netzwerk, die Bitcoins scheinen wie die Bestandteile einer Utopie, die trotz aller NSA-Aktivität weiterbesteht: Dass es immer noch möglich ist, sich unerkannt im Netz zu bewegen, sich auszutauschen, zu handeln.

Natürlich interessiert sich auch die NSA für das Tor-Netz. Auch ihr ist es schon gelungen, Spionage-Software durch Sicherheitslücken hindurch auf Rechner zu schleusen, die Tor nutzen. Trotzdem schließen die Spione in einem von Edward Snowden geleakten Bericht: „Wir werden niemals alle Tor-Nutzer identifizieren können.“

Im Sommer dann fielen Teile des Darknets aus, weil einer der größten Server-Betreiber, der Kinderpornoringe gefördert hatte, in Irland festgenommen wurde. Es ist ein wesentlicher Teil des Darknets. Der Teil, der einen an allem zweifeln lässt.

„Kriminelle“, sagt der US-Autor Dan Suarez, der als einer der IT-kundigsten Schriftsteller gilt, seien die „early Adopter“ des Darknets. Sie könnten nicht über die Mainstream-Kanäle kommunizieren. Genauso wie Dissidenten. Grundsätzlich aber seien solche Netzwerke wie Feuer: „Man kann sie für gute oder böse Zwecke verwenden.“

Je autoritärer ein Staat werde, sagt Suarez, desto froher könnten die Menschen sein, über solche Kanäle zu verfügen. Die meisten seien ja glücklicherweise keine Kriminellen.

Das Tor-Netzwerk wächst, es wird stabiler, schneller. Gerade hat es 250.000 Dollar von der niederländischen Organisation Digital Defenders Partnership erhalten, mit dem es seine Server weiter ausbaut.

Jetzt können Sie natürlich immer noch sagen: Wieso soll ich mich zwischen all diesen irren Typen verstecken? Ich habe doch nichts zu verbergen!

Sind Sie da völlig sicher? Sollen wir mal die Liste aller Webseiten veröffentlichen, die Sie 2013 besucht haben?

Vielleicht wissen Sie nur noch nicht, was Ihnen einmal vorgeworfen werden könnte. Es kann durchaus sein, dass Sie mit jemanden zu tun hatten, für den sich irgendwann die Geheimdienste interessieren. Und damit dann womöglich auch für Sie.

Gesetze können sich ändern. Das sieht man am besten an Facebook. Plötzlich gelten neue Regeln, und die Fotos, die Nachrichten, die Witze, die man unter ganz anderen Voraussetzungen hinterlassen hat, werden neu bewertet, neu genutzt.

Man macht so viel im Netz und vergisst so vieles so schnell wieder.

Ross Ulbricht hat sich vermutlich irgendwann auch nicht mehr daran erinnert, wie er als „altoid“ in dem Forum mit den halluzinogenen Pilzen auf die Silk Road aufmerksam machte. Wie er dasselbe in diesem anderen Forum tat. Und wie er dort dann einmal Programmierer für sein „Start-up“ anwerben wollte. E-Mails bitte an: rossulbricht@gmail.com.

So kam das FBI an seinen Namen. Als er dann im Darknet gefälschte Pässe bestellte, standen sie bei ihm vor der Tür. Sie gingen wieder, sie mussten ihn auf frischer Tat ertappen. Und wenig später nahmen sie ihn in der Bibliothek in San Francisco fest. Er soll in der Science-Fiction-Ecke gesessen haben.

Der Grausame Pirat Roberts. Im Englischen klingt der Name etwas eingängiger: Dread Pirate Roberts. DPR. Er ist nicht immer ein und dieselbe Person.

117.367

Seiten registriert die Suchmaschine Torch. Experten halten die genaue Größe des Darknets für kaum schätzbar

Quelle: Torch

1,2

Millionen Nutzer hatten im August den Tor-Browser installiert. Seit Februar hatte sich die Zahl mehr als verdoppelt

Quelle: Tor-Netzwerk

13.000

Angebote für verschreibungspflichtige Medikamente und Drogen gab es auf der Silk Road am 13. September 2013

Quelle: Olivia Bolles Criminal Complaint

0,9

Millionen Nutzer hatte der Darknet-Schwarzmarkt Silk Road, bevor das FBI ihn im Oktober schloss

Quelle: Reuters

164.000

Einträge haben die Nutzer der neuen Silk Road seit Oktober im Forum ungefähr geschrieben

Quelle: Silk Road Forum

1

Bitcoin war im Juni 78,95 Euro wert, der Kurs stieg bis November auf 731 Euro und ist zuletzt wieder stark gefallen

Quelle: Bitcoin.de

In dem Märchen „Die Brautprinzessin“ können verschiedene Kapitäne diese Rolle annehmen. Wenn einer von ihnen sich zur Ruhe setzt, fährt ein anderer mit neuer Crew und altem Namen weiter.

Glauben sie alle an die Utopie des Piraten?

Anfang November, Ross Ulbricht sitzt da schon im Gefängnis, taucht ein neuer Grausamer Pirat Roberts auf. Und mit ihm die Silk Road 2.0.

Zunächst einmal ist da nur eine graue Seite. Man muss den Nutzernamen eingeben, ein Passwort, dann öffnet sich die neue Silk Road.

„Mit großer Freude kündige ich ein neues Kapitel auf unserer Reise an. Silk Road ist aus der Asche auferstanden, und erwartet euch nun alle wieder“, schreibt der Grausame Pirat Roberts. „Willkommen zurück in der Freiheit.“

Die Seite sieht aus wie der kleine hässliche Bruder von eBay. Ein grünes Kamel ziert die linke Ecke. Drogen sind in Listen sortiert. Stimulierend, psychedelisch, verschreibungspflichtig, andere. Heroin, Ecstasy, Cannabis. Da sind dann die Blüten abgebildet: 3,5 Gramm Stinky Bud. Oder ein Gramm Dutch Super Lemon Haze. 0,03222 Bitcoins. Etwa 20 Euro.

Wer sind die Menschen, die sich hinter Namen wie AliceInWonderland, WalterWhite oder AmericaOnDrugs verbergen? Glauben sie an die Utopie des Ross Ulbricht? An eine Utopie, die unsere gemeinsame werden könnte?

Es ist nicht einfach, sich mit ihnen zu unterhalten. „Hören Sie bitte auf, Geschichten über das Darknet in den Medien zu verbreiten“, schreibt etwa Albanski88. „Danke“.

Spätestens der Fall Ross Ulbricht hat allen klargemacht, wie sehr sie unter Beobachtung stehen. Ulbricht wird von einem Anwalt verteidigt, der mutmaßliche Al-Qaida-Terroristen und Taliban verteidigt hat. Staatsfeinde.

Es könnte ein Interesse geben, auch Ross Ulbricht wie einen darzustellen, mutmaßen manche in den Foren.

Je klarer der Staat das Darknet diskreditiert, desto eher zögern seine Bürger womöglich, es sich anzusehen. Die letzten Freiräume des Internets blieben so unbewohnt.

Der neue Dread Pirate Roberts antwortet, er habe unglücklicherweise keine Zeit für Interviews. Die Seite wird angegriffen, fällt aus. Er muss die Community bei Laune halten.

Ross Ulbricht macht im Gefängnis Yoga, bestreitet alles, fordert 28 Millionen Dollar beschlagnahmte Bitcoins zurück und lässt seinen Anwalt mit der Staatsanwaltschaft verhandeln.

Ein europäischer Student ist bereit zu reden. Er schreibt, er sei zwischen 20 und 25, den Nutzernamen solle man bitte nicht erwähnen.

Er ist mal häufiger, mal weniger häufig im Silk-Road-Forum unterwegs. Es kann vorkommen, dass er acht Stunden am Stück hier verbringt. Zurzeit kaufe er vor allem Speed. „Das Darknet macht die Welt auf jeden Fall sicherer“, findet er, „es reduziert die Kriminalität auf der Straße, und es ermöglicht den Menschen, Geheimnisse zu verbreiten, die die Welt kennen sollte, bevor die Verbreitung im Keim erstickt wird.“ Außerdem gehe es den Silk-Road-Betreibern darum, sicherere Drogen anbieten. Es gibt dort Ärzte, die online beraten. Wer schlechten Stoff verkauft, wird diskreditiert.

Als kurz vor Weihnachten drei Silk-Road-Mitarbeiter in den USA, in Australien und Irland festgenommen werden und sich der Grausame Pirat kurz darauf nicht mehr im Forum zu Wort meldet, vermutet sein Stellvertreter, er sei in „schwerer Gefahr“. Ein Nachfolger des Piraten sei allerdings benannt. Alle diskutieren, wem man jetzt noch trauen kann und ob die Silk Road 2.0 das überlebt.

Man wird unsicherer, wenn man das Online-Gegenüber nicht als Porträtfoto sieht wie auf Facebook. Vielleicht ist das besser so. Vielleicht ist es eine Unsicherheit, die man in Zeiten der NSA-Erkenntnisse gut gebrauchen kann.

Man fühlt sich während solcher Lektionen im Online-Untergrund manchmal wie im Maschinenraum des Netzes. Kaum Licht, es riecht, es wummert, aber je länger man hinsieht, desto mehr begreift man.

„Was das Vertrauen in Silk Road 2.0 angeht, möchten wir natürlich für niemanden die Hand ins Feuer legen“, stellt „Germanshop“ nüchtern fest, der mit einer Gruppe von Dealern Amphetamin vertreibt. Auf einer anderen Plattform haben sie gerade „einiges an Geld verloren“, weil sie dem Administrator „leider vertraut haben“.

Manchmal klingt er wie der CEO eines Start-ups: „Zum wirtschaftlichen Aspekt von Untergrund Märkten kann man sagen, dass man je nach Angebot und Qualität durchaus Millionär werden kann.

Betrachtet er die Silk Road nicht nur als Alternative zu den Kartellkriegen, sondern auch als Front im Kampf um die Freiheit des Internets? Wie Ross Ulbricht?

Ihr Ziel sei klar: Gewinne.

Aber das muss ja nicht für alle Surfer im Darknet gelten.

Vielleicht sehen Sie sich die Sache einmal an?

Johannes Gernert, 33, ist sonntaz-Redakteur. Wie er auf der Silk Road einkaufte, lesen Sie unter: taz.de/untergrundgras

Sophia Martineck, 32, ist freie Illustratorin in Berlin. Sie hat weder Facebook- noch Google-Account

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