piwik no script img

Neue Mode im Morgenrot

DAS SCHLAGLOCH von MATHIAS GREFFRATH

An den Wohlstand für alle, den auch Sie kürzlich noch versprachen, glaubt niemand mehr

Die junge Frau steht in der Morgensonne. Sie trägt ein Empire-Kleid und hat die Hände ausgebreitet, in ihren Ohren glänzt – so suggeriert es jedenfalls die Offset-Reproduktion – ein Rubin. Sie blickt auf bestellte Felder, ferne Wälder und das Kirchlein im Dorf, das zur Gutsgerichtsbarkeit ihres feudalen Gatten gehören mag, irgendwo in den sanften Hügeln Sachsens. Caspar David Friedrich hat die Idylle gemalt, 1818.

Es ist Sonntag, der Kaffee zieht, auf dem Balkontisch liegen Brötchen, Eier und Marmelade. Nur das schöne Bild stört die Gemütlichkeit. In mattem Glanz illustriert es den Titel: „Der fürsorgliche Staat demütigt den Menschen“, mit der Unterzeile: „Deutschland hat sehr wohl eine liberale Tradition: 1792 entwarf Wilhelm von Humboldt eine Gesellschaft der Selbstverantwortung“. In sieben Spalten wütet der Wirtschaftschef der Sonntags-FAZ gegen den wohlfahrtsbesessenen Extremismus des 20. Jahrhunderts und den Staat, der „das halbe Bruttoinlandsprodukt frisst“. Was uns fehle, schreibt Rainer Hank, sei eine „Grundsatzdebatte über die Staatsaufgaben“.

Normalerweise wird derlei Gejammer mit dem Niedergang Deutschlands begründet. Seit sich nun herumgesprochen hat, dass der Exportweltmeister mit seinen Ausgaben für Infrastruktur, Rechtspflege, Bildung, Arbeitslosenalimentierung sowie den außerordentlichen Kosten der Einheit im Mittelfeld der EU liegt; und weiter: dass die Länder mit der höchsten Staatsquote in Europa um ein bis zwei Prozentpunkte dynamischer wachsen, geht das nicht mehr so umstandslos. Aber wo die Statistik den Liberalisierungsfuror nicht mehr stützt, wird er moralisch – und garniert sich mit Tradition, in diesem Fall mit Humboldt und dessen „Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen“.

Zurück, ruft Hank, zu den freien Geistern, von denen auch wir einige hatten, bevor der gierige Staat uns in die „Freiheitsvergessenheit“ zwang. Dass heute niemand mehr die „Legitimationsfrage“ stelle – „Mit welchem Recht und in welchem Umfang darf ein Gemeinwesen aus Menschen Steuerbürger machen“ – das sei „skandalös“ und „teuer“. Vor allem aber eine tiefe Demütigung „freier Menschen“, die mit „sozialer Zwangsgewalt“ zu Empfängern von Kindergeld, Stipendien und Renten degradiert wurden: Opfer von Regierenden, die „um des puren Machterhalts“ willen das gute Geld zum Fenster rauswarfen.

Ob Sozialisten, Liberale oder Konservative – für Hank haben sie alle am Hörigkeitsgehäuse des Sozialstaats mitgebaut, sind „freiheitsvergessen“ und feige; gepeinigt von „Ängsten“ (vorm Volk), hätten sie die „Freiheit“ (des Geldes) gegen „Ruhe und Egalität“ verscherbelt. Aber aus der Vergangenheit weht der Weltgeist, und „nirgendwo steht geschrieben, dass die Welt auf immer so bleiben muss“.

Der Sozialstaat verletzt die Menschenwürde, das ist eine steile These für den Sonntagmorgen auf der Terrasse, mit Blick auf den wohlgeschorenen Rasen, insofern zielgruppenkorrekt. Bedenklich daran ist nur, dass in der FAZ niemand mehr sitzt, der sagt: Lieber Dr. Hank, Sie haben ja Recht. Wir können uns die Wohltaten nicht mehr leisten. Und an den Wohlstand für alle, den auch Sie kürzlich noch versprachen, glaubt niemand mehr. Und gerade deshalb, lieber Hank, lassen Sie die Hände vom Sozialstaat. Mal ganz abgesehen davon, dass die „Freiheit“, die der junge Humboldt etwas verschwommen anspricht, genau die Freiheit war, die wir damals brauchten, um gegen den preußischen Staat mit seinen Monopolen, Zunftgarantien, Eheverboten und dem mörderisch teuren Militär die Handelsfreiheit, den freien Lohnarbeiter und Ressourcen für den Aufbau der Industrie durchzusetzen.

Das ist jetzt zweihundert Jahre her, ebenso wie diese romantische Vorstellung von Volkssolidarität: Das waren die Träume eines vorindustriellen Aufklärers, der noch Großfamilien vor sich sah, nicht Lohnarbeiter, Großstädte und Kunden. Deshalb hat der späte Humboldt das auch in die Schublade gelegt. Und wie gesagt: Vorsicht mit Anarchismus, machen Sie den Staat nicht so nieder!

Wir haben ihn für den Aufbau der Bahn und der Post und der Elektrizität gebraucht, die sind jetzt gut privatisiert, aber für die nächste Runde der Atomwirtschaft brauchen wir ihn wieder. Und wir brauchen vor allem das Gemeinwohlversprechen. Wer, meinen Sie denn, soll uns die Arbeitslosen vom Hals halten und die fünf Millionen Minijobber? Uns glaubt doch niemand, dass Lohnsenkungen Arbeitsplätze schaffen. Wahrscheinlich stimmt es ja auch nicht mehr. Aber was meinen Sie, wenn das Volk nicht mehr an das Gute im Staat glaubt, wenn es den Münteferings und den Köhlers nicht mehr abnimmt, dass das alles zu ihrem Besten ist?

Sollen die alle wieder in die Gewerkschaft eintreten, was meinen Sie, was dann hier abgeht … keine turbofeudale Rhetorik, bitte, Herr Hank, das ist Belletristik, aber nicht aufgeklärte Wirtschaft, der Glaube an das Gemeinwohl ist eine Produktivkraft, und jetzt – husch! – ab mit Ihnen ins Feuilleton, sind Sie nicht eigentlich sowieso von Haus aus Literaturwissenschaftler und Theologe …?

Dass kein kühler Kopf des ideellen Gesamtkapitalisten den kapitalistischen Anarchismus und die Staatshetze seiner literarischen Angestellten ausbremst, verheißt Turbulenz. Worauf ich aber wieder einmal keine Antwort habe, an diesem Morgen auf dem Frühstücksbalkon, das ist die Frage: warum die linken Bürger und sorgenden Familienväter im Lande keine kraftvolle Grundsatzdebatte über die „Grenzen der Wirksamkeit freier Märkte“ und die Aufgaben des modernen Staates im 21. Jahrhundert in Gang bringen.

Denn da gäbe es genug: die Neuverteilung der gesellschaftlich notwendigen Arbeit – deren Volumen im kapitalistischen Sektor sinkt – und ihre Umwidmung in bürgerschaftliche, nicht kommerzielle Sozialdienste; den flächendeckenden Übergang zu erneuerbaren Energien und die Erziehung zu ihrem nachhaltigen Gebrauch; Schulen, die freie Menschen produzieren und nicht nur Untertanen des Marktes und des Unterschichtsfernsehens.

Vorsicht mit Anarchismus, machen Sie den Staat nicht so nieder

Warum bringen wir es nicht fertig, diese Projekte so zu formulieren, dass sie nicht als Nötigung, sondern als Zuwachs an Freiheit begriffen werden? Warum sitzen und schweigen da bestimmt zweihundert Leute im Parlament, von denen ich annehme, dass sie genauso denken? Warum geht so etwas durch: „Der fürsorgliche Staat demütigt die Menschen“? Warum reißt der rote Faden unserer Geschichte immer wieder ab und endet in Melancholie?

Die Frau von 1818 auf dem Zeitungsbild trägt übrigens, das ergibt die folgende Recherche, nicht Empire, sondern die verbotene Mode der „Demagogenbewegung“, der jungen Radikalen. Keine feudale Idylle also – ebenso wenig wie die Ikone mit den Männern in Betrachtung des Mondes. „Die machen Umtriebe“, hatte Caspar David Friedrich gefeixt, als er das Bild Besuchern zeigte, und abends schrieb er einen Brief an seinen Bruder, über die Herrscher, „so den Menschen gern wie den geduldigen Bestien alles aufbürden möchten und höchstens erlauben ia-ia! schreien zu dürfen“. Aber nirgendwo steht geschrieben, dass die Welt auf immer so bleiben muss.

Fotohinweis: Mathias Greffrath lebt als freier Publizist in Berlin.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen