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„Wenn die Nationalhymne erklingt, stehe ich auf. Das reicht“

Gregor Gysi wird sich in diesem Leben kein Fähnchen an den Dienstwagen mehr hängen. Aber der Chef der Linksfraktion ist bei dieser WM sogar für die deutsche Mannschaft, wenn es gegen Afrikaner geht. Und all die jungen Deutschen in Schwarzrotgold? Sind ein richtiges Erlebnis für ihn

INTERVIEW JENS KÖNIG UND PETER UNFRIED

taz: Und, Herr Gysi, schon eine Deutschlandfahne am Dienstwagen?

Gregor Gysi: Nein. Ist nicht mein Stil. Ich bin nicht so der Fahnentyp.

Wolfgang Tiefensee, Ostdeutscher wie Sie und Bundesverkehrsminister, hat seinen Dienstwagen zur WM schwarzrotgold beflaggt.

Soll er doch.

Sie waren nicht immer so entspannt, wenn es um nationale Symbole ging.

Das konnte ich auch gar nicht sein. Ich bin 1948 geboren, ich gehöre einer Generation an, die ein gestörtes Verhältnis zur nationalen Frage hat. 1991 reiste ich als Vorsitzender einer PDS-Delegation nach Israel. Das Hotel, in dem ich wohnte, hisste meinetwegen die deutsche Flagge. Was glauben Sie, wie komisch mir da zumute war. Noch nie hatte jemand meinetwegen eine Fahne gehisst, und jetzt ausgerechnet die der Bundesrepublik Deutschland, und das auch noch in Israel …. Heute bin ich bei so etwas deutlich gelassener.

Sie fiebern also mit der deutschen Fußball-Nationalmannschaft mit?

Ich freue mich für sie, aber auch das hat gedauert. Früher war ich natürlich für die DDR-Mannschaft, auch wenn sie gegen die BRD spielte. Da konnte ich 1990 doch nicht einfach so schnell wechseln, ich musste das alles erst mal in meinem Kopf verarbeiten. Inzwischen sind 16 Jahre vergangen. Ich bin lange Abgeordneter des Bundestages. Ich habe mich bewusst dafür entschieden, Mitglied des Gesetzgebers der Bundesrepublik Deutschland zu werden. Ich bin damit auch für Bayern mitverantwortlich.

Bis vor ein paar Jahren gehörte es unter vielen Linken zum guten Ton, gegen die deutsche Mannschaft zu sein, egal gegen wen sie spielte.

Dieses Gefühl kenne ich gut, auch von mir selbst, obwohl ich es nie für richtig gehalten habe. In einem Land wie Frankreich wäre das undenkbar. Da sind die Linken selbstverständlich für ihre Nationalmannschaft.

Was war an diesem antideutschen Gefühl falsch?

Die Konservativen haben Deutschland immer als eine Nation verstanden, zu der zumindest bestimmte Linke nicht dazugehören. Diese Linken haben das irgendwann akzeptiert und sich nur noch außerhalb und gegen die Nation definiert. Das war zwar verständlich, aber ein Fehler. Eine Linke mit einem so gestörten Verhältnis zur Nation kann natürlich nie mehrheitsfähig werden. Eine Nation, die man nicht will, kann man nicht führen. Da ist ein Widerspruch im Kopf und ein Widerspruch im Herzen.

Und diesen Widerspruch haben Sie überwunden, auch wenn Deutschland gegen sympathische Underdogs aus Afrika spielt?

Ich habe ein Herz für Schwache, ich bin gern für Außenseiter, auch im Fußball. Aber nicht mehr unbedingt, wenn es gegen Deutschland geht. Aufgeregt habe ich mich, als beim 2:0 Englands über Trinidad &Tobago das erste Tor nur fiel, weil der englische Stürmer seinen Gegenspieler an den Haaren gezogen hatte. Gegen eine Mannschaft aus der Dritten Welt auf dieser unfaire Art zu gewinnen – das steht niemandem zu, erst recht keiner großen Nation wie England.

Wie weit reicht Ihre Begeisterung? Singen Sie auch die Hymne mit?

Nein, das mache ich nicht. Das will ich auch nicht mehr. In der DDR durften wir die Hymne irgendwann nicht mehr singen, dann bezog sich Modrow als Ministerpräsident auf sie. Damals sagte ich mir: Ich singe sie nicht wieder. Ich singe weder die alte noch die neue Hymne. Wenn heute die deutsche Nationalhymne erklingt, stehe ich auf – das reicht.

Wenn 70.000 Zuschauer im Olympiastadion in Berlin die Nationalhymne singen? Keine Probleme damit?

Ist doch okay. Stört mich nicht mehr. Früher hätte es mich gestört. Da hätte ich lauter Bilder von grölenden, aggressiven Deutschen vor mir gesehen. Es hat sich etwas verändert.

Was erleben wir gerade? Eine Sternstunde des fröhlichen Patriotismus?

Wir erleben, wie die jungen Deutschen aus der Fußball-Weltmeisterschaft ein einziges großes Fest machen. So etwas wäre noch vor zehn Jahren unmöglich gewesen. Da wurden aus solchen großen Ereignisse immer aggressive oder verklemmte Veranstaltungen. Ich hoffe, falls wir verlieren, dass diese Stimmung so fröhlich bleibt. Dass wir die Größe haben, zuzugeben, dass die anderen besser waren, und einfach weiterfeiern.

Ist das nur Party? Spricht daraus kein bisschen Patriotismus?

Wahrscheinlich ist es beides. Aber ich will hier nicht über Begriffe streiten. Denn das gehört zur jetzigen Entwicklung dazu: Wir Alten können Schwierigkeiten haben, wie wir wollen – die jungen Leute nutzen diese WM einfach, um zu feiern. Das ist eine ungeheuer selbstständige Generation.

Warum reden Sie nur von der jungen Generation? Feiert nicht das ganze Land? Hängen nicht auch 50- und 60-Jährige die deutsche Fahne heraus?

Weil es das ist, was mir am meisten auffällt: Hier wächst eine junge Generation heran, die ein völlig normales, unverkrampftes Verhältnis zu ihrem Land hat. Es stört mich nicht im Geringsten, dass sie mit Deutschlandfahnen herumlaufen und Hüte in Schwarzrotgold tragen. Sie bekennen sich ganz selbstverständlich zu ihrem Land. Sie tun das nicht anders als die Holländer, die Franzosen und die anderen Fans.

Das überrascht Sie?

Das überrascht mich sehr angenehm, ja. Ein solches Fest hätte ich nicht für möglich gehalten. Der deutsche Nationalismus in seiner Aggressivität war und ist männlich dominiert, und er resultiert ja auch aus Minderwertigkeitskomplexen. Er bietet Stolz kraft einer Geburt in eine Staatsbürgerschaft zum Nulltarif an. Aber in den Gesichtern der jungen Deutschen sieht man, dass sie sich anderen Nationen gegenüber weder überlegen noch unterlegen fühlen, sondern sehr gleich berechtigt. Hier entsteht im Verhältnis zur eigenen Nation zum ersten Mal etwas Normales, Unverkrampftes, Souveränes. Das ist ein richtiges Erlebnis für mich. Das beruhigt mich.

Weil es etwas ist, was Sie sich immer gewünscht haben, Ihre Generation aber nicht hinbekommen hat?

Weil es etwas ist, was das ganze Land verbinden kann. Ein solches gemeinsames, auch nationales Band ist doch die Voraussetzung dafür, dass alle sich für das Ganze verantwortlich fühlen. Der totalitäre Antikommunismus auf der rechten Seite hat das bislang genauso verhindert wie der totalitäre Antinationalismus bei einem Teil der Linken. Und jetzt kommt eine Generation, die in Bezug auf die deutsche Nation nicht mehr so gestört ist wie meine Generation. Wir Älteren haben doch alle noch unsere Schübe im Kopf, unsere nachvollziehbaren, aber inzwischen falschen Fantasien und Vorstellungen. Das kriegen wir nicht mehr hin, weder so noch anders lang. Wir sind das einzige Land, das die Frage diskutiert, ob man seine Hymne mitsingen soll oder nicht, und davon ein ganzes Bekenntnis abhängig macht. Das werden wir den heute 18- oder 20-Jährigen nicht mehr einreden können.

Eine Art Patriotismus von unten?

Diese ganzen Begriffsdebatten, diese ewigen Forderungen nach unverkrampften, positiven Nationalgefühlen, auch dieses ritualisierte „Nie wieder Deutschland“ – das ist bei der jungen Generation alles zum Scheitern verurteilt. Meine Generation sollte bei diesem Thema einfach den Mund halten. Wir, und zwar Linke wie Konservative, sollten die Jüngeren nicht mit unseren Erfahrungen aus den 50ern und 60ern langweilen oder gar versuchen, sie damit zu beeinflussen. Wir sollten nicht etwas anschieben wollen, was sich von selbst viel besser entwickelt. Wir sollten das die Jungen alleine machen lassen. Darin besteht unser Beitrag zur Normalisierung.

Früher hieß es bei den Linken immer: Ein fröhliches Bekenntnis zu Deutschland schließt Auschwitz aus.

Das ist falsch. Ich habe das schon früher in einem anderen Zusammenhang gelernt. Als meine Söhne zu DDR-Zeiten die ehemaligen Konzentrationslager besuchten, merkte ich, dass das für sie eine andere Bedeutung hatte als für mich. Für mich waren die KZ in den 50er-Jahren noch sehr aktuell, Angehörige von mir waren dort ermordet worden. Aber schon für meine Söhne existierten diese furchtbaren Ereignisse nur noch durch mich übersetzt. Bei ihren Kindern, das wurde mir damals klar, wird es noch weiter weg und irgendwann nur noch wie Mittelalter sein. Junge Deutsche, die heute Abitur machen, sind im Jahr des Mauerfalls geboren. Die KZ sind seit über 50 Jahren geschlossen. Diese jungen Leute hatten wenig Gelegenheit, an Deutschland zu leiden. Sie begreifen den Abstand zur Geschichte – auch wenn sie ihre Verantwortung für diese Geschichte nicht loswerden und hoffentlich nicht loswerden wollen.

Für viele Deutsche führte angesichts ihres gestörten Verhältnisses zu ihrer eigenen Nation der Fluchtweg nach Europa. Steht dieser Weg immer noch offen?

Selbstverständlich – aber nicht als Fluchtweg. Wir brauchen die europäische Integration. Ein normales Verhältnis zum eigenen Land darf nicht dazu führen, dass man deshalb die europäische Integration ablehnt. Irgendwann brauchen wir ein europäisches Gefühl und ein europäisches Bewusstsein. Das zu entwickeln ist Aufgabe vornehmlich der nächsten Generation. Noch hätte eine europäische Fußballmannschaft keine Chance auf Fans.

Und bis dahin definiert Franz Beckenbauer, was deutsch ist?

Wieso?

Die deutsche Identität, die deutsche Kultur, die Einheit – alles drückt sich aus in der Person Beckenbauer.

Das halte ich für Quatsch. Für unsere nationale Identität brauchen wir keine Überfigur, hinter der wir uns alle verstecken können.

Die Hurra-Patrioten von Bild empfehlen, die Fahne auch nach der WM rauszuhängen. Dann werde alles gut.

Länder, die ständig und überall ihre Fahne heraushängen, haben meistens ein Problem mit ihrer Identität, sie fühlen sich von den andern nicht anerkannt. Was denken Sie, warum in der DDR so viele Fahnen wehten?

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