: Kampf um christliches Symbol
KRUZIFIX-STREIT Der Europäische Gerichtshof in Straßburg verhandelt darüber, ob Kreuze in öffentlichen Einrichtungen eine Verletzung der Menschenrechtskonvention darstellen
AUS STRASSBURG CHRISTIAN RATH
Die Frage berührt das in Jahrhunderten gewachsene Selbstverständnis des christlichen Abendlandes. Müssen europäische Staaten in religiösen Fragen neutral sein oder dürfen sie religiöse Symbole als Ausdruck ihrer nationalen Identität benutzen? Darüber verhandelte am Mittwoch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte. Konkret ging es um Kruzifixe in italienischen Schulen, doch die Bedeutung des Falles reicht weit darüber hinaus.
Ausgelöst hatte den Rechtsstreit die italienische Mutter Soile Lautsi. Sie verlangte 2001, dass in den Schulräumen ihrer zwei Söhne, damals 11 und 13 Jahre alt, die Kruzifixe abgenommen werden. In Italien besteht eine Regierungsempfehlung, ein Kreuz im Klassenzimmer aufzuhängen. Die konkrete Entscheidung treffen aber lokale Schulbehörden. Doch Lautsis Aufforderung fand kein Gehör, weder bei den Behörden noch bei den italienischen Gerichten.
Erst beim Straßburger Gerichtshof für Menschenrechte hatte sie im letzten November Erfolg. Der Staat sei im Bereich der öffentlichen Erziehung zu Neutralität und Pluralismus verpflichtet, so die Straßburger Richter. Kruzifixe in öffentlichen Schulen verstießen gegen die Europäische Menschenrechtskonvention, die 47 Staaten unterzeichnet haben. Doch Italien legte Rechtsmittel ein. Jetzt muss die mit 17 Richtern besetzte Große Kammer des Gerichtshofs entscheiden.
„Hier wurden keine Menschenrechte verletzt“, betonte Nicola Lettiere, der Vertreter Italiens, „das ist vielmehr eine politische und ideologische Frage.“ Er bezeichnete die Klägerin als „militante Atheistin“, die der Gesellschaftsmehrheit ihren Willen aufzwingen wolle. Das Kreuz sei ein „volkstümliches Symbol“, das zur Identität Italiens gehöre. Es diene nicht der Indoktrination oder Missionierung der Kinder, es sei vielmehr ein „stummes Symbol“, das keinen Einfluss auf den Unterricht habe. „In Italien kann auch ein atheistischer Lehrer oder eine muslimische Lehrerin mit Kopftuch in einem Klassenzimmer mit Kruzifix unterrichten“, erklärte der Regierungsvertreter.
Die Vertreter der Klägerin halten das Kreuz dagegen vor allem für ein religiöses Zeichen. „Wer ein Klassenzimmer mit Kruzifix sieht, kann den Eindruck nicht vermeiden, dass sich der Staat mit dem katholischen Glauben identifiziert“, sagte Anwalt Nicolo Paoletti. Er berief sich auch auf die klare Trennung von Kirche und Staat, die in der italienischen Verfassung garantiert ist. „Im italienischen Verfassungsgericht hing bis 2001 ein Kreuz, dann haben es die Richter entfernt, weil es dem säkularen Charakter des Staates widerspricht“, erinnerte der Anwalt.
Die aus Finnland stammende Soile Lautsi war in Straßburg nicht erschienen. Sie will aus Furcht vor Anfeindungen nicht öffentlich auftreten und fotografiert werden. Ob sie tatsächlich Atheistin sei, wollte ihr Anwalt ausdrücklich offen lassen. „Das ist hier irrelevant“, sagte er, „sie könnte Jüdin sein, Protestantin oder ungläubig, es geht hier um die Neutralität des Staates.“
Gegen eine staatliche Neutralitätspflicht argumentierte jedoch der renommierte New Yorker Rechtsprofessor Josef Weiler, der in Straßburg großen Eindruck hinterließ. Er vertrat die Interessen von zehn Staaten, die Italien unterstützten, darunter Russland, Griechenland und Rumänien. „Die Trennung von Kirche und Staat gilt bisher nur in einem Teil Europas, rund die Hälfte der Bürger leben aber nicht in laizistischen Staaten.“ Sein Musterbeispiel war England. „Dort gibt es eine Staatskirche, die Queen ist als Staatsoberhaupt zugleich Oberhaupt der anglikanischen Kirche, und in der Nationalhymne heißt es ‚God save the Queen‘.“ Letztlich gehe es um nationale Identitäten, die nicht zentral vom Straßburger Gerichtshof für Menschenrechte vorgegeben werden sollten. „Frankreich mit Kruzifixen ist nicht mehr Frankreich. Italien ohne Kruzifixe ist nicht mehr Italien“, proklamierte der jüdische Professor, der mit Kippa auftrat.
Das Straßburger Urteil wird erst in einigen Monaten verkündet. In Deutschland hatte 1995 das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass der Staat Kinder nicht verpflichten kann, „unter dem Kreuz“ zu lernen.
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