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neues aus neuseeland: müde bin ich, geh zum gral von ANKE RICHTER

Fahnen schwingen und Balleluja grölen – das kann jeder. Dafür muss man kein Sportsfreund sein. Aber sich den Schlaf verkneifen, die Nacht dem Großbildschirm schenken und tagsüber den Fußballgott einen guten Mann sein lassen, das können nur die Harten. Die Leiderprobten, die 28 Flugstunden, Zwischenstopp Dubai, Trombose-Gefahr und vier Bord-Filme nicht scheuen, um dem Land der ausgelassenen Germanen zu entkommen.

Bei Anrufern aus Übersee löst die Feststellung, dass es dort Abend und hier Morgen ist, stets große Heiterkeit aus. Ja, die Erde ist eine Kugel. Immer wieder lustig, diese Zeitverschiebung. Bis zur WM – da hört der Spaß auf. Fernsehgucker jenseits der europäischen Breitengrade glotzen in den nächtlichen Kosmos, wenn sie Fußball sehen wollen. Selbst Pay-TV löst das Problem nicht, immer dann zu schlafen, wenn die Spiele laufen. Schwere Entscheidung: blechen oder verzichten? Man könnte ins Motel gehen. Wecker stellen, gucken, weiterschlafen. Besser, als ein Jahr lang Sky TV zu bezahlen. Aber einsam ist es.

Also holen die Fans Erkundigungen bei anderen ein. Deutscher Klüngel hin oder her – hier geht es um höheres Leid. Manche haben Trikots beim einzigen „German Imports“-Autohändler der Stadt erstehen können. Landsmänner wie -frauen erkennt man sonst meist an der lilafarbenen Fleece-Verpackung, abgerundet durch Socken in Birkenstocks und leicht verkniffenem Antlitz. Doch Äußerlichkeiten zählen in diesen Tagen nicht mehr, da einen im Dunkeln keiner so genau erkennen kann. Wenn man sich um zwei Uhr nachts die Krümel aus den Augen reibt, sich die Wetterjacke über den Pyjama streift und durch den Regen in die einzige zu dieser Stunde offene Sport- Bar schlurft, zählen nur Schmerz und Wonne. Es spielt Schweden gegen Deutschland, und ganz Neuseeland liegt im Bett. Ganz Neuseeland? Nein, eine kleine Enklave der Tapferen versammelt sich im Holy Grail. Alle können sie von Wirt Scott Nugent lernen: Der schaut ein Spiel um ein Uhr nachts, das nächste um vier Uhr morgens. Dann bringt er seine Söhne zum Fußballtraining, und danach muss er selbst auf den Platz. Sein Doping: Kaffee. Kaum zu glauben, dass seine Vorfahren Briten waren.

Wer den heiligen Gral scheut, dem bleibt nur das Bismarck. Christchurchs deutscher Feinkostladen hat rechtzeitig zur WM-Saison seine Tore geöffnet und besticht durch Gummibärchen, Schwarzwälder Schinken und frische Laugenbrezeln. Da nimmt man den Reichskanzler, der streng von der Wand schaut, notgedrungen in Kauf.

Delikatesshändler Hagen, thüringisch wie die Sülze im Regal, versucht es mit Wiener Kaffeehaus-Romantik und hat Bistro-Stühle aufgestellt. Ob Germknödel oder Königsberger Klopse – für den Kiwi-Kunden ist das eh alles eins. Nach und nach trudeln sie um fünf Uhr früh im Bismarck ein: Steffen, der hamburgische Vollkornbäcker, Matthias, der schwäbelnde Unidozent, und Frank, der Urologe aus Kiel. Matthias „möcht a Weggle“. Frank ordert Brötchen mit Sülze. Hagen setzt Thüringer Kaffee auf und schaltet Sky TV ein. Alle sind glücklich. Steh auf, wenn du für Deutschland bist? Steh einfach früh auf.

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