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SPIELPLÄTZE (21)Orgel besiegt Kommentator 10:0

FUSSBALLGUCKEN Uruguay gegen die Niederlande in der Kreuzberger Emmauskirche

Spielplatztest

Ort: Emmaus-Kirche am Lausitzer Platz in Kreuzberg, ganz in der Nähe des U-Bahnhofs Görlitzer Bahnhof

Sicht: Sehr gut. Im Lauf des Abends wird es in der Kirche aber etwas dunkel, was manche Menschen stören mag.

Kompetenz: Eher unterdurchschnittlich. Dafür wird nicht ständig etwas reingerufen.

Nationalismus: Kaum Nationalflaggen oder -trikots zu sehen, auch keine auffällige Häufung orangefarbener Kleidungsstücke. Bei Deutschland-Spielen ist Ersteres aber anders. Nationalismuskritische Interventionen kommen eventuell vom Organisten: Vor dem Duell Deutschland gegen Ghana verspielte er sich bei der Hymne.

Manna: Es werden Erdnüsse und Salzstangen gereicht, der Becher zu 50 Cent. Ein Biobier (0,33 l) kostet 2 Euro.

In dieser Zeitung wurde bereits ausführlich darauf hingewiesen, dass die aktuelle kollektive Fußball-Euphorie zumindest im Zusammenhang mit den Massenveranstaltungen vor Großbildleinwänden quasi-religiösen Charakter hat: Verkleidet und mit bestimmten Farben bemalt wird unter Gesängen und oft in Gruppen zu Zehn- und Hunderttausenden zu den Kultstätten gepilgert, wo sich gemeinsam Euphorie und Hysterie hingegeben werden darf und soll. Getragen wird das Ganze vom kollektiven Glauben an eine übergeordnete, einende Instanz, die durch den kollektiven Glauben erst erschaffen beziehungsweise reproduziert wird und um deren Bestätigung und Heil es geht: die Nation.

Von daher mag es zwar auf den ersten Blick überraschen, ist aber durchaus naheliegend, wenn sich eine anders begründete Kultstätte diesem (in der Form) temporären Kult öffnet. Die Kreuzberger Emmaus-Gemeinde lässt auch in diesem Jahr das Fußball-Spektakel in die Kirche, nachdem schon bei der Europameisterschaft 2008 Spiele gezeigt wurden. Das Besondere daran: Der Stummfilmmusiker Stephan von Bothmer begleitet die Spiele an der Orgel, der Fernsehkommentar ist ausgeschaltet. Das Konzept findet nur bei vier Spielen Anwendung (Deutschland gegen Ghana, den beiden Halbfinals und dem Finale), ist aber ein voller Erfolg. Schon das erste Spiel sahen rund 500 Personen, und an diesem Abend, an dem Deutschland nicht spielt, sind die Stuhlreihen nur unwesentlich leerer.

Die protestantisch unprätentiöse Kirche ist für eine Bildprojektion gut geeignet: eine freie weiße Wand, keine festen Bänke, keine Seitenaltäre oder ähnlicher Schnickschnack – nur eine Orgel, ein Altar und ein darüber hängendes mehrere Meter breites Triptychon.

So modern wie die Kunst ist auch das Umfeld: Die Kirche beherbergt ein Café und, im Eingangsbereich, einen Laden mit verschiedensten Produkten aus solidarischem Handel; unter der Treppe zur Empore ist ein großer Abstellraum, vor dem der Verkaufstresen aufgebaut ist. In einer kleinen Vitrine des Ladens ist auf einem schwarz-rot-gelb gestreiften Band „Fan-Zone“ zu lesen. Dort liegen Produkte aus Südafrika: kleine gehäkelte und gefüllte Bälle (auch als „Footbag“ bekannt), Gewürze und Badesalz.

Ähnlich angenehm ist auch die Fanzone drinnen: Bei spannenden Szenen geht das gemischte Publikum mit, Tore werden laut, aber kurz bejubelt (die von Uruguay übrigens stärker), eine Vuvuzela trötet nur zwei Mal ganz kurz. Zwar sind auch bei offensichtlich ungefährlichen Spielsituationen emotionale Ausbrüche zu hören, was nicht gerade für Fußballerfahrung spricht – doch Derartiges ist zurzeit wohl eher die Regel.

Oft baut der Organist Schlager in das Spiel ein: von „Star Wars“ bis zu „Fuchs, du hast die Gans gestohlen“

Gewöhnungsbedürftig ist hingegen von Bothmers Spiel, das eher Stringenz vermittelt und somit nicht zu den abrupten Wechseln des Fußballs passt. Anders als bei Filmmusik hat der Organist aber auch nicht den Anspruch, die Bildinhalte umzusetzen und somit ihre Wirkung zu verstärken. Nur manchmal werden etwa heiße Phasen oder Szenen von schrillen, an Hitchcocks „Psycho“ erinnernden Tönen begleitet. Viel öfter baut von Bothmer Schlager ein: Vom Imperiums-Marsch aus der Filmreihe „Star Wars“ bis zu „Fuchs, du hast die Gans gestohlen“ ist einiges dabei, was für Erheiterung sorgt.

Während einmal eine Spielszene auf der Leinwand wiederholt wird, höre ich hinter mir jemanden sagen: „Bei der Wiederholung müsste er eigentlich das Gleiche nochmal spielen.“ Doch das kriegt von Bothmer nach eigener Auskunft leider nicht hin. Auch hätten sich Standardmotive für bestimmte Spielszenen nicht bewährt. Das Publikum ist dennoch hochzufrieden – stehender Applaus nach einem akustisch ungewöhnlichen Fußballabend. RALF HUTTER

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