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Als ich den ersten Obdachlosen sah, konnte ich es nicht glauben. Jetzt gehe ich an ihnen vorüber und das ist ein ProblemSich gewöhnen

Foto: Lou Probsthayn

KATRIN SEDDIG

Als ich nach der Maueröffnung das erste Mal in Westberlin war, sah ich meinen ersten Obdachlosen und war schockiert. Er lag unter einer S-Bahnbrücke auf der Erde und drückte sein Gesicht in einen Schlafsack, der vor Dreck starrte.

Ich bin in einem kleinen Dorf in Brandenburg aufgewachsen, da gab es einen Mann, der öfter auf der Straße lag, weil er zu viel getrunken hatte, alle kannten den und wer ihn sah, sagte wem von seiner Familie Bescheid oder brachte ihn in der Schubkarre nach Hause, denn er hatte ein Zuhause. Er war nicht obdachlos.

Das ist der Kapitalismus, dachte ich in Westberlin, hier wohnen manche Menschen auf dem Boden und haben gar nichts, nicht mal ein Zimmer. Ein Zimmer kam mir damals gar nicht so besonders viel vor, ein Zimmer hatte jeder, ein Zimmer kostete fast gar nichts. Eine Wohnung kostete vielleicht zwanzig Mark im Monat. Oder vierzig Mark, je nachdem, wie groß sie war. Meist war sie klein und zwischen vielen anderen gleich geschnittenen Wohnungen. Aber dass jemand überhaupt nichts zum Wohnen hatte, das konnte ich mir nicht vorstellen.

Mittlerweile wohne ich seit siebzehn Jahren in Hamburg, ich wünsche mir die DDR nicht zurück, aber mittlerweile, ich muss es gestehen, habe ich mich gewöhnt, an die Menschen, die auf der Straße schlafen. Ich habe so viele von ihnen gesehen, mit ihren Plastikbeuteln, in ihren Schlafsäcken oder Zelten, unter den Brücken, auf den Parkbänken, in den Winkeln und wo es ein bisschen geschützt ist, wo sie sich ein Nest bauen, oder auch besinnungslos, betrunken, ohnmächtig auf dem Rücken liegen.

Was mich immer getröstet hat, ist der nette Gedanke, dass sie dazugehören, zu einer großen Stadt. Es gibt sie in New York, in London, Berlin und auch im kleinen Hamburg, weil wir auch ein bisschen groß sind, es gibt sie weniger in Kleinstädten, kaum in den Dörfern. Und ich habe mich gewöhnt, ich bin nicht mehr schockiert, wie damals, in Westberlin. Aber was heißt das, sich gewöhnen?

In Hamburg sind gerade zwei Menschen auf der Straße gestorben, zwei obdachlose Menschen, die draußen übernachtet haben. Wenn man keine Wohnung hat, ist man wie ein Krebs ohne Schale, eine Schnecke ohne Haus, man ist allem um sich herum schutzlos ausgeliefert, dem Wetter, den Geräuschen, den anderen Menschen. Und man ist sich dessen bewusst, diesem Ausgeliefertsein, denke ich. Man trinkt vielleicht, weil es das einfacher macht, und dann macht es das nicht. Ich weiß das alles nicht.

In Hamburg sind also zwei Menschen auf der Straße gestorben und da sie nicht umgebracht worden sind und auch nicht erfroren, ist es etwas, was man hinnehmen muss. Das Leben hat sie irgendwie geschafft. Mich schockiert das nicht mehr, ich habe mich ja gewöhnt. Ich bin nicht mehr der Mensch, der einmal tief getroffen war, weil er einen anderen Menschen sah, der kein Zuhause hatte. Ich habe mich mit dieser Welt abgefunden.

Ich will auch gar nichts darüber wissen, denn wenn ich damit anfange, weiß ich vielleicht, wie der eine Mensch geboren worden ist, in einem Bett, und das hatte, was wir alle hatten, Möglichkeiten. Und dann, auf dem Weg auf die Straße, so will ich glauben, ist er selber Schuld gewesen, denn das wollen wir uns immer vorstellen, dass jemand selber schuld ist, dass er anders gekonnt hätte, es aber nicht gewollt hat, denn dann wäre er verantwortlich und nicht ich.

Ich weiß, dass ich mich damit schützen will. Ich muss ja leben, irgendwie, aber ich bin verantwortlich. Ich bin zu einem Bruchteil, zu meinem speziellen Teil mit für die Welt verantwortlich, ich bin verantwortlich dafür, dass jemand auf der Straße stirbt, an dem ich vorbeigegangen bin, weil ich mich gewöhnt habe. Katrin Seddig ist Schriftstellerin in Hamburg, ihr jüngstes Buch, „Eheroman“, erschien 2012. Ihr Interesse gilt dem Fremden im Eigenen

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