piwik no script img

Einig Funke-Land

MOGELPACKUNG Seit einem Jahr hat die „Westfälische Rundschau“ keine eigene Redaktion mehr. Leser findet die Zeitungsattrappe trotzdem noch

„Das war knallharter Wettbewerb, und der belebte das Geschäft“

EX-„WR“-REDAKTEUR VOLKER LÜBKE. MIT DER EIGENSTÄNDIGKEIT DER „WESTFÄLISCHEN RUNDSCHAU“ STARB AUCH DER WETTBEWERB UM DIE LESER IN DER REGION

AUS DORTMUND JULIA NEUMANN

Herr Fernkorn überlegt nicht, er weiß, was er will: die Zeitung, von der es heißt, dass sie gar niemand mehr will. Im Supermarkt an der Dortmunder Möllerbrücke kauft der 46-Jährige Eier, Brötchen und eine Mogelpackung – die Westfälische Rundschau (WR).

Die Mogelpackung ist Teil der Funke Mediengruppe, ehemals WAZ-Gruppe. Genau ein Jahr ist es her, dass der Essener Konzern alle 120 Redakteure und die 180 Freien Mitarbeiter der Westfälischen Rundschau entließ. Die Mitarbeiter protestierten, der Aufschrei in den Medien war auf ihrer Seite – vergeblich. Die WR ist nun eine Zeitung ohne eigene Redaktion. Der überregionale Mantel wird von der Funke-eigenen Westdeutschen Allgemeinen Zeitung (WAZ) aus Essen geliefert, die Lokalteile kommen von der Konkurrenz oder von Funkes eigenen Blättern im jeweiligen Verbreitungsgebiet.

Revierderbys? Passé

Es ist, als hätte Borussia Dortmund alle Spieler entlassen, stattdessen spielt Schalke jetzt in gelben Trikots. Die Farben leben äußerlich weiter – aber Revierderbys? Gibt es nicht mehr. In Dortmund spielen auf den Lokalseiten etwa die konservativen Ruhr Nachrichten des Lensing-Verlags im Rot der einst sozialdemokratisch angehauchten Rundschau. Die WR-Lokalausgabe für den Märkischen Kreis wurde zum 1. Januar dieses Jahres gleich komplett eingestampft.

Die ehemalige Redaktion gibt es freilich noch. 21 Mitarbeiter sind in anderen Redaktionen der Funke-Gruppe untergekommen. 39 beschäftigt der Verlag derzeit noch befristet in einer Transfergesellschaft. Die restlichen 60 verdienen Geld als Hotelinhaber, Kneipenbesitzer und Fremdenführer, suchen nach neuen Aufgaben.

Bernhard Schlütter und Bernd Maus, zum Beispiel. Die Redakteure arbeiteten 23 Jahre lang für die Lokalredaktion Märkischer Kreis. In Plettenberg, im Sauerland, „wo die Uhren anders ticken als in Dortmund“, sagt der 54-jährige Maus. Für den früheren Leiter der Lokalredaktion war der Rausschmiss nur ein weiteres Glied in einer Kette von Fehlentscheidungen aus dem fernen Essen. Entscheidungen, die den Stand der Lokalredaktionen nach und nach aushöhlten. 2009 etwa dachten sich die Entscheider bei Funke den regionalen Newsdesk aus. Zentrale Layouter bei der WAZ bestimmten fortan, wie die Plettenberger Seiten auszusehen hatten. Die Lokalredation war entmachtet – und sauer. Zudem musste Maus’ Redaktion Stellenstreichungen hinnehmen, von sechs festen Mitarbeitern blieben dem Lokalchef drei. Die Zeit für ausgeruhte Geschichten, für Reportagen fehlte. Statt Personal: Storytelling-Seminare.

Dann, im August 2012, die als Ausverkauf getarnte „Lokale Offensive“: Mitarbeiter des Mantelteils wechselten vom Schreibtisch ins Lokale. „Eine Defensive. Die haben uns nur Trainer und Direktoren vor die Nase gesetzt, dabei hätten wir Stürmer gebraucht“, sagt Maus. Er meint Leute, die rausgehen und Geschichten aufschreiben können.

Das machen Maus und Schlütter nun selbst. Im Oktober kam die erste Ausgabe ihres eigenen Magazins an den Kiosk. In komplett schreiben sie alle zwei Monate die Geschichten aus der Region Plettenberg auf, für die in der WR kein Platz mehr war. Mal geht es um einen besonderen Gewürzladen im Ort, mal über das Engagement der Freiwilligen Feuerwehr. Statt hektisch geschriebener Artikel liefern sie Geschichten für den Nachttisch. 5.000 Stück beträgt die Auflage im Moment. Maus und Schlütter sind zufrieden, es läuft.

50 Millionen Euro Miese will Funke dagegen mit der WR eingefahren haben. Betriebsratschef Uwe Tonscheidt kann das nicht bestätigen: Wirtschaftszahlen mussten dem Betriebsrat nicht vorgelegt werden. Immerhin konnte Tonscheidt Geld für die Weiterbildungen von ehemaligen Festangestellten erstreiten.

Volker Lübke ist einer von ihnen. In Seminaren hat er sich angehört, wie Social Media funktioniert. 17 Jahre war der 53-Jährige als Redakteur bei der WR. In der Kreisredaktion Märkischer Kreis saß er mal zehn, manchmal zwölf Stunden am Tag am Schreibtisch, um eine gutes Produkt zu machen. Eines, das mit der ehemals konkurrierenden Meinerzhagener Zeitung mithalten konnte, die mehr Seiten hatte und mehr Redakteure. „Das war knallharter Wettbewerb, und der belebte das Geschäft“, sagt er.

Bis Ende September, bis dahin lief die Kündigungsfrist, kam die Rundschau noch im Mitarbeiter-Abo. Ab und zu schaute Lübke rein – und hätte es am liebsten jedes Mal nicht getan. Die neue WR in seinem Briefkasten, eine Schmalspurausgabe: Den Inhalt der beiden Lokalseiten lieferten die Lüdenscheider Nachrichten, die wie die Meinerzhagener Zeitung zum Märkischen Zeitungsverlag gehört.

Wettbewerbsdruck? Fehlanzeige. „Wenn abends in der Ratssitzung der Fraktionsvorsitzende der CDU zurücktrat, stand es morgens nicht in der WR – obwohl es vor Andruck passiert ist“, sagt Lübke fassungslos. Von Lokalpolitikern, in der Schlange beim Bäcker und von den Feuerwehrleuten aus seinem Heimatort Meinerzhagen hörte Lübke Sätze wie: „Schade, dass es euch nicht mehr gibt“, oder: „Was in der Zeitung steht, kann man ja nicht mehr lesen.“

Im Juli hatte die WR im Märkischen Kreis jeden dritten Abonnenten verloren, die verkaufte Auflage sank auf rund 6.500 Exemplare. Die Aufsteller mit der täglichen Ausgabe verschwanden an den Verkaufsständen. Am 31. Dezember 2013 stellte Funke die WR-Ausgabe für den Märkischen Kreis ein.

„Kein Mensch will eine Zeitung ohne Redaktion“, protestierte die WR-Redaktion vor einem Jahr gegen ihren Rauswurf. Heute zeigt sich: Das stimmt nicht. In Lünen und Schwerte, in Hagen und im östlich von Dortmund gelegenen Arnsberg, im südlichen Olpe und im Siegerland: überall dort liegt die Mogelpackung noch am Kiosk. In Dortmund leuchten immer noch die Logo-Banner über den Büdchen, die Zeitungsständer mit Rundschau-Aufkleber stehen zwischen Werbetafeln für Kronen-Bier und Schleckeis. Sogar die Reklame am verlassenen Rundschau-Haus leuchtet noch.

Einer ist ja auch noch da: Hier, im Brüderweg 9, verharrt Malte Hinz. Wo einst Seiten konzipiert und Titel gemacht wurden, sitzt in der dritten Etage nun nur noch der Chefredakteur. Den braucht es formal für das Impressum. Praktisch ist er für die Kommentare auf der Seite 1 zuständig. Über das „spannende Experiment“, wie er die Idee von einer redaktionslosen Zeitung im Februar 2013 nannte, möchte er nicht reden. Auch nicht, wenn es um die Zukunft des Blattes geht. Dem medium magazin sagte Hinz im Januar: „Mit der Rundschau wird noch Geld verdient.“ Es gebe keinen Grund, den Titel vom Markt zu nehmen.

Der emeritierte Dortmunder Journalistikprofessor Ulrich Pätzold fürchtet diese Art, Zeitung zu machen. „Nach diesem Muster könnten wir am Computer die abenteuerlichsten Zeitungen zusammenstellen.“ Das WR-Modell könnte zum Negativvorbild für andere Verlage werden: Tageszeitung als eine Collage aus Versatzstücken.

Macht der Gewohnheit

Ein Negativvorbild, das aber trotzdem funktioniert. Die Macht der Gewohnheit ist schuld: An der Kasse im Supermarkt an der Dortmunder Möllerbrücke weiß Herr Fernkorn, der seinen Vornamen nicht in der Zeitung sehen will, dass er für eine „halbgare Zeitung“ 1,60 Euro bezahlt. Seit 15 Jahren holt sich Fernkorn die WR – wegen des Fernsehprogramms und der Veranstaltungstipps. Und weil ihm das Rundschau-Rot besser gefalle als das Blau der Ruhr Nachrichten.

Marianne Fischer aus dem Hagener Ortsteil Berchum liest jeden Morgen um 7 Uhr eine halbe Stunde lang in der Rundschau. Seit die Ruhr Nachrichten und die Funke-eigene Westfalenpost den Lokalteil zuliefern, vermisst Fischer den Austausch mit Freundinnen über zwei verschiedene Artikel von derselben Veranstaltung. Mit ihrer Tochter Jana, die ihren Job als freie Mitarbeiterin bei der WR verlor, hat Marianne Fischer über den Kahlschlag gesprochen.

Fischer könnte aus Protest gegen das WR-Modell nun die Westfalenpost kaufen. Allerdings: Es wäre sinnlos: „Da steht doch dasselbe drin. Außerdem gehört die auch zur Funke-Gruppe. Wo ich das Geld ausgebe, ist also egal.“ Seit knapp zwanzig Jahren ist Fischer an das Rascheln der Rundschau in ihren Händen am Frühstückstisch gewöhnt. Darauf möchte sie nicht verzichten.

Und solange diese Gewohnheit Lesern reicht, wird wohl auch das Rot der Westfälischen Rundschau bleiben. Als schöner Schein.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen