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„Diese Grauzone“

Der Historiker Peter Longerich belegt anhand bisher nicht ausgewerteter Quellen, dass das NS-Regime ab Ende 1941 immer wieder gezielte Hinweise auf die Vernichtung der Juden gab

INTERVIEW STEFAN REINECKEUND CHRISTIAN SEMLER

taz: Herr Longerich, Sie meinen, dass die Ermordung der europäischen Juden für die Deutschen in der NS-Zeit ein „offenes Geheimnis“ war. Nun gab es damals keine empirische Sozialforschung. Woher wissen Sie das also?

Peter Longerich: Historiker machen auch Aussagen über die französische Revolution, ohne sich auf empirische Sozialforschung stützen zu können. Es gibt Indizien, die Rückschlüsse zulassen, was die Deutschen wussten.

Welche?

Versteckte Hinweise in Zeitungen. Reden von Nazi-Führern, in denen ganz offen die Ausrottung der Juden angekündigt wurde. Es gab im NS-Staat in Bezug auf den Holocaust eine Ambivalenz. Einerseits wurden Details des Judenmordes als Staatsgeheimnis behandelt, das zu verraten unter Strafe stand – andererseits hat das Regime selbst die Gerüchte über die „Endlösung“ eher bestätigt. Wir verfügen über recht viele Dokumente und Aussagen, die zeigen: Die Deutschen haben damals verstanden, dass die deportierten Juden ermordet werden. Das wussten viele, ohne allerdings Einzelheiten etwa über Vernichtungslager zu kennen.

Was genau bedeutet die Formel „offenes Geheimnis“? Wie haben wir uns die Grauzone zwischen Wissen und Ahnen vorzustellen?

Ein nach 1945 oft gesagter Satz, den ich zum Titel meines Buches gemacht habe, lautet: „Davon haben wir nichts gewusst.“ Er lautet nicht: „Davon habe ich nie etwas gehört.“ Bestritten wird also das genaue Wissen. Diese Grauzone ist das präzise Echo der ambivalenten NS-Propaganda, die konkrete Details tabuisiert hat, aber andererseits klar gemacht hat, dass es Massenexekutionen gibt.

Und diese ambivalente Propaganda der Nazis war prägend für das Bewusstsein der Deutschen?

Ja, und zwar interessanterweise über 1945 hinaus. Wenn Sie heute mit Älteren darüber reden, machen sie oft eine erstaunliche Entdeckung: Dieselbe Person gibt zu, viel über den Judenmord gewusst zu haben, und blockt gleichzeitig ab. Walter Kempowski hat in den 70er-Jahren genau diese Beobachtung gemacht: Jemand erzählt ihm in der Eisenbahn, dass er nichts vom Judenmord gewusst hat – und fünf Minuten später, dass er damals von der Eisenbahn aus ein KZ gesehen hat. Dieses seltsame Nebeneinander ist das Ergebnis der ambivalenten NS-Propaganda.

Aber dass die NS-Führung die konkreten Mordaktionen tabuisiert hat, zeigt doch, dass sie wusste, dass die Bevölkerung dies nicht gutheißt.

Ja, deshalb wurde der Massenmord abgeschirmt. Aber die NS-Führung hat ja gleichzeitig recht offen darüber gesprochen. Warum hat sie das getan? Weil die NS-Führer wollten, dass jeder Deutsche weiß, dass dies passiert. Genau dieses Doppeldeutige ist charakteristisch.

Welche Hinweise hatte die NS-Führung denn auf Unmut in der Bevölkerung?

Es gab die Berichte des Sicherheitsdienstes, SD, und die internen täglichen Berichte im Propagandaministerium. Als Historiker kann man vor allem die SD-Berichte nicht als wirklichkeitsgetreue Abbildung lesen. Man muss sie stets mit anderen Quellen abgleichen. Wenn man das tut, erkennt man, dass zum Beispiel die Einführung des gelben Sterns für Juden 1941 bei vielen Deutschen für Unmut sorgte. Das zeigen auch Berichte von Juden, die oft über kleine Solidaritätsgesten von Seiten der Deutschen berichten. Offenbar empfanden es viele Deutsche als Kulturschande, Menschen wie Vieh zu brandmarken.

Reagierte die NS-Führung darauf?

Indirekt. Einige Wochen später beginnen die Deportationen der deutschen Juden – und die Propaganda vermeidet nicht zufällig jedes Wort darüber.

Vielen Deutschen war der gelbe Stern peinlich – aber trotzdem leugnen sie, etwas vom Judenmord zu wissen. Wie passen diese eher widersprüchlichen Haltungen zueinander?

Der Satz „Davon haben wir nichts gewusst“ ist ein Ergebnis, das in der Zeit von 1941 bis 1945 entsteht. Den Unwillen beobachten wir 1941. Darauf reagiert der NS-Staat mit Repression gegen solche kleinen Solidaritätsgesten und mit antisemitischen Kampagnen, in denen das Regime das Geheimnis des Massenmordes immer mehr preisgibt. Die NS-Führung weiß, dass es Gerüchte über Massenmorde gibt – und sie fördert diese Gerüchte sogar, wohl auch, um Angst zu schüren.

Wie verändert sich, laut den NS-internen Berichten, die Haltung der Deutschen zu Juden nach 1941?

Im Jahr 1942 heißt es dort meist, die Bevölkerung verhalte sich in der Judenfrage „indifferent und passiv“. Aber das darf man nicht mit desinteressiert übersetzen.

Warum nicht?

Weil diese Berichte gleichzeitig die Schlussfolgerung nahelegen, dass die Deutschen erkannt hatten, dass die Judenfrage für das Regime die zentrale Überlebensfrage war. Das war die Botschaft der antisemitischen Kampagnen. Gleichzeitig wurde ab 1943/44 immer deutlicher, dass der Krieg verloren geht. Deshalb diese Reaktion: Die Leute verstehen, was mit den Juden geschieht, und wollen es gerade deshalb nicht mehr wissen. Das Bewusstsein „Wir haben davon nichts gewusst“ setzt ein, nachdem sie verstanden hatten, was die NS-Führung tut.

Der Versuch der NS-Führung, alle Deutschen zu Mitwissern zu machen und in Haftung für die Verbrechen an den Juden zu nehmen, ist also erfolgreich?

Ja, durchaus. Ein weiteres Motiv ist die Angst vor der Rache der Opfer, die die NS-Führung schürt. Göring hält 1942 eine Rede und sagt, dass „der Jude mit seinem unendlichen Hass“ das deutsche Volk vernichten werde, wenn es den Krieg verliert.

Das heißt: Die Verdrängung fußt auf zwei Motiven: auf Schuldabwehr – weil man ja irgendwie davon gewusst hat –, und nach der Niederlage in Stalingrad der Angst vor der Rache des „Weltjudentums“ in Form bolschewistischer Horden, weil Deutschland den Krieg verliert?

So ist es. Allerdings verschieben sich 1943 die Gewichte in der NS-Propaganda. Nach der Öffnung der Gräber von Katyn tritt der bolschewistische Terror in den Vordergrund. [In Katyn ermordeten 1940 der sowjetische Geheimdienst NKWD mehr als 10.000 polnische Offiziere und Zivilisten. 1943 entdecken deutsche Soldaten die Massengräber. Das NS-Regime nutzte Katyn für seine antibolschewistische Propaganda; d. Red.] Und die Identifikation von Bolschewismus und Judentum verschwindet 1944 fast ganz aus der NS-Propaganda.

Warum?

Weil die These, dass Deutschland gegen die jüdische Weltverschwörung kämpft, die von Moskau über London bis Washington reicht, für die NS-Führung nicht mehr funktional ist. 1944 tritt die bolschewistische Rache in der Propaganda in den Mittelpunkt, das Antisemitische verschwindet weitgehend.

Das Feindbild wird der Bolschewismus an sich, nicht mehr als Form des Jüdischen …

Ja, genau. Die Lage an den Fronten wird für die NS-Führung immer kritischer. Deshalb versucht die Propaganda nicht mehr zu betonen, was den Feind eint – das Jüdische –, sondern was ihn trennt. So wird die Möglichkeit suggeriert, dass die Alliierten auseinanderfallen können.

Können Sie abschätzen, wie stark die Angst vor der jüdisch-bolschewistischen Rache als Motiv in dem Verdrängungsprozess gewirkt hat?

Das ist schwierig. Die NS-Propaganda versucht seit 1944 das Wort jüdische Rache jedenfalls zu vermeiden. Auch weil sie entdeckt hat, dass Rache in der Regel eine Reaktion auf ein begangenes Unrecht ist.

Plakativ gefragt: Konnte ein Deutscher am 9. Mai 1945 glaubhaft sagen: Davon haben wir nichts gewusst? Oder war das mehr oder weniger gelogen?

Interessant ist das Vage dieser Aussage. Was heißt denn konkret „davon“? Wer ist „wir“? Was bedeutet „wissen“. Bemerkenswert ist dieses Diffuse. Wir müssen bei der Frage, was Deutsche 1945 vom Judenmord wussten und verstanden hatten, berücksichtigen, an welchen sozialen Orten sich die Leute im NS-Staat darüber austauschen konnten. Das war nur in jenen kirchlichen und sozialdemokratischen Kreisen möglich, die immun gegen die NS-Ideologie geblieben waren. Ein sozialdemokratisch geschulter Arbeiter hat den Antisemitismus mit Bebel als den „Sozialismus der dummen Kerls“ gedeutet. Mit einem solchen moralischen und ideologischen Referenzsystem war es, zumal unter den Bedingungen der NS-Herrschaft, kaum möglich, den Holocaust, einen historisch präzedenslosen Vorgang, wirklich zu begreifen.

Die Deutschen haben auf die Ermordung der Juden erst mit Missbilligung, dann mit Verdrängung reagiert. Die Missbilligung dementiert Daniel Goldhagens These, dass der Holocaust „ein nationales Projekt“ der deutschen Gesellschaft war – oder?

Goldhagens These vom Vernichtungsprojekt war als Provokation für die Forschung nützlich, aber viel zu pauschal. Wer sind denn die Deutschen? Die Gesellschaft war ja nicht homogen. Es gab schon in der Weimarer Republik ein völkisch-nationalistisches Milieu, das in der Tat eine Gesellschaft ohne Juden wollte. Diese extreme Gruppe ist im NS-Staat hegemonial, umfasst aber wohl etwa 15 bis 25 Prozent der Gesellschaft. Andererseits erfordert ein so gewaltiges Unternehmen wie der Judenmord eine gewisse Kommunikation. Die Führung muss der Basis ja vermitteln, dass das richtig ist, was sie tut. Und es muss auch zumindest der Anschein eines gesellschaftlichen Konsenses inszeniert werden.

Und das ist gelungen?

Ja, das ist der NS-Führung gelungen. Insofern haben die Deutschen so funktioniert, wie die NS-Führer es wollten.

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