: Anarchisten und ein heiliger Berg
ITALIEN Die Apuanischen Alpen sind vor allem durch ihre Marmorsteinbrüche bei Carrara weltberühmt geworden. Das Städtchen in der Toskana war einst auch eine Hochburg der Anarchisten. Ein idealer Ort für Wandertouren
■ Über zwei Jahre hinweg haben Pepo Hofstetter und seine Partnerin Marta Arnold die Apuanischen Alpen in der Toskana erkundet. Herausgekommen ist ein schönes, reich bebildertes Buch mit zwanzig Wandervorschlägen, die die ganze Vielfalt des Gebiets abdecken: vom Stadtspaziergang durch Carrara bis zur siebentägigen Hochtour von Hütte zu Hütte. Hinzu kommen viele politische und (kultur-)historische Begleittexte.
■ Die Apuanischen Alpen sind ein wildes, steiles Kalkgebirge im Nordwesten der Toskana, zwischen Lucca und La Spezia gelegen. Seine höchsten Gipfel ragen fast 2.000 Meter aus dem Tyrrhenischen Meer. Bekannt sind sie vor allem durch den Marmorabbau bei Carrara.
■ Nördlich der Berge liegen die Lunigiana und die Garfagnana, ländliche, wenig bekannte Gebiete mit endlosen Wäldern, stillen Tälern, ursprünglichen Dörfern und vielen schönen Wandermöglichkeiten. Mitten durch die Apuanischen Alpen und den angrenzenden Apennin verlief gegen Ende des Zweiten Weltkrieges auch die „Linea Gotica“.
■ An dieser Front hatte die deutsche Wehrmacht ein halbes Jahr lang den Vormarsch der alliierten Truppen stoppen können, weil sich deren Energien auf die Westfront konzentrierten. Für die BewohnerInnen der Region war es eine traumatische Zeit; deutsche Soldaten und italienische Faschisten verübten zahlreiche Massaker an der Bevölkerung. An diese und viele weitere Geschichten erinnert Hofstetter in seinem Buch.
■ Er schildert, wie ein Aufstand der Frauen von Carrara die Deportation der Stadtbevölkerung verhinderte, erzählt von den Kämpfen der Partisanen und Anarchisten, würdigt die Kulturgeschichte (Michelangelo!) und die kulinarische Gegenwart. Hofstetter entwirft das Porträt einer geschichtsträchtigen, kontrastreichen Region am Rande der großen Touristenströme.
■ Pepo Hofstetter: „Die Apuanischen Alpen – Wandern in einer unbekannten Toskana“. 312 Seiten, mit Fotos und Routenskizzen. Rotpunktverlag, Zürich 2010, 28 Euro
■ Weitere Infos: www.wanderweb.ch/apuane
VON PEPO HOFSTETTER
Die große schwarzrote Fahne hat schon bessere Zeiten erlebt. Schlaff und von der südlichen Sonne völlig ausgebleicht hängt sie hoch über der Piazza Matteotti im Zentrum Carraras. Der großzügige Platz war zur Zeit des Marmorbooms Ende des 19. Jahrhunderts das pulsierende Zentrum der sozial tief gespaltenen Stadt. Und die Oper im Politeama Giuseppe Verdi, an der die Fahne hängt, galt als eine der besten Italiens. Doch die Tenöre sind schon lange Zeit verstummt, und im Sommer 2009 ließ die Stadt das historische Gebäude wegen Einsturzgefahr räumen. Auch die Anarchisten der Federazione Anarchica Italiana (FAI), die sich nach dem Zweiten Weltkrieg dort eingenistet hatten und ein internationales Archiv aufbauten, mussten ihre Büros längst verlassen.
Carrara (60.000 Eiwohner) liegt im nordwestlichen Zipfel der Toskana, ein paar Kilometer hinter der Mittelmeerküste. Bis heute zehrt es von seinem Ruf als Welthauptstadt des Marmors, auch wenn mehr und mehr Blöcke in China verarbeitet werden. Aber noch immer werden den umliegenden Bergen jährlich eine Million Tonnen Marmorblöcke entrissen, darunter der edle weiße Statutario, aus dem schon Michelangelo seine Pietà und andere Kunstwerke meißelte.
In die Steinbrüche
Lange war Carrara ein wichtiges Zentrum des Anarchismus: Das libertäre Gedankengut stieß bei den Steinbrucharbeitern auf fruchtbaren Boden. In der autofreien Altstadt erinnern unzählige Gedenktafeln an die früheren Kämpfe. Von den einst über zehntausend Cavatori sind jedoch nur ein paar hundert übrig geblieben.
Die Straßen und Plätze sind noch leer, als wir frühmorgens vom neu renovierten Hotel Michelangelo durch die Altstadt zum Busbahnhof schlendern, der im Norden der Stadt an der Piazza Saccho e Vanzetti liegt.
Ein klappriger Bus bringt uns ein enges Bergtal hoch, mitten hinein in die eindrückliche Welt der Steinbrüche. Erbarmungslos werden hier ganze Gipfel abgetragen, wird den Bergen von oben und unten, von rechts und links mit Diamantfräsen, Presslufthämmern und Baggern zugesetzt. Nach einer guten Viertelstunde erreichen wir das Dorf Colonnata (538 m), hier endet die Straße. Von den Römern gegründet, dreht sich hier noch heute alles um den Marmor. Und um den Speck (Lardo), den es ohne den Stein nicht gäbe.
Einst kalorienreiche Arme-Leute-Kost, hat sich der Lardo di Colonnata in den letzten Jahren zum Kultprodukt der Feinschmecker gemausert. Dafür haben nicht zuletzt Bürokraten aus Brüssel und Rom gesorgt. In den 1990er Jahren bliesen sie zum Angriff auf die „unhygienisch“ deklarierten Marmorwannen, in denen das Schweinefett sechs Monate lang in einer Lake mit Salz, Kräutern und Gewürzen reifen muss. Die Carabinieri beschlagnahmten Speck und schlossen Betriebe, doch schließlich setzten sich die Colonnatesi durch. Die Episode machte den Lardo international bekannt, und seit 2004 ist er gar durch ein EU-Herkunftssiegel (IGP) vor Nachahmung geschützt.
Weg Nr. 38 ins Gebirge
Von der Bus-Endstation auf der Piazza Palestro im Zentrum des Dorfs folgen wir dem rotweiß markierten Weg Nr. 38 taleinwärts in die Apuanischen Alpen. Das 60 mal 20 Kilometer große und knapp 2.000 Meter hohe Kalkgebirge, das ein Regionalpark seit 25 Jahren schützt, verfügt über ein dichtes Netz von gut signalisierten und durchnummerierten Wander- und Bergwegen. Auf ihnen lässt sich das zerklüftete, wilde Gebirge variantenreich durchstreifen, mit atemberaubenden Ausblicken auf Küste und Wälder, Steinbrüche, Städte und Dörfer.
Für Etappenhalte gibt es zahlreiche Rifugi (schön gelegene Berghütten, in denen man vorzüglich isst) und in vielen Dörfern preiswerte Pensionen und kleine Hotels.
Der Weg Nr. 38 führt uns nordwärts über den Hauptkamm der Berge und in das Gebiet der Lunigiana. Die Wanderung ist anstrengend, aber abwechslungsreich und sehr lohnend. Kaum haben wir die letzen Häuser von Colonnata passiert, stapfen wir über einen gut erhaltenen, breiten Säumerweg einen riesigen Kastanienwald hoch. Von den Steinbrüchen ist hier kaum mehr etwas zu hören.
Nach einer knappen Stunde erreichen wir das verlassene Bergarbeiterdörfchen Vergheto (837 m). Es liegt hübsch auf dem Rücken eines Bergausläufers und gibt den Blick auf die Bergkette frei. Zwei Männer tragen riesige Büschel von wildem Oregano ins Tal. Vor uns baut sich das imposante Massiv des Monte Sagro (1748 m) auf.
Schon die widerständigen Apuani-Liguri, die einst die Gegend besiedelten und später von den Römern zu Zehntausenden nach Süditalien deportiert wurden, verehrten den Berg als heilig. Je höher wir steigen, desto prächtiger wird die Sicht auf die kahle Bergkette im Norden und die Steinbrüche, die dicht besiedelte Küste und das Tyrrhenische Meer hinter uns. In der unbewaldeten Ostflanke des Monte Sagro erinnern rostige Wassertanks, Stahlseile und Hausruinen an den früheren Marmorabbau.
Jetzt ist es völlig ruhig, nur ab und zu blökt ein Schaf vom gegenüberliegenden Hang. Hie und da entdecken wir Reste von Bruchsteinrampen, den sogenannten Via di lizza. Auf ihnen „schlittelten“ die Lizzatori die schweren Steinblöcke auf Holzkufen ins Tal; in einigen Dörfern wird die alte Technik jeweils im Sommer nochmals vorgeführt.
Wir queren grell gleißendes Marmorgeröll und steigen steil zur Foce di Vinca hinauf. Der Pass liegt auf 1.333 Meter auf dem Hauptkamm der Apuanischen Alpen. Tief unten glitzert die Küste von Viareggio bis zum Golf von La Spezia; bei klarem Wetter sieht man bis nach Korsika.
Auf dem Pass stoßen wir auf den Höhenweg Alta Via delle Alpi apuane, er führt in sieben Etappen von Castelpoggio bei Carrara bis nach Camaiore unweit von Lucca. Wir begleiten ihn ein kurzes Stück bis zur Foce di Rasori (1.318m), suchen ein letztes Mal Korsika am Horizont und steigen durch dichten Fichten-, Buchen- und Kastanienwald zum Bergdorf Vinca ab (808 m, zwei Stunden ab Foce di Vinca).
Das alte, nur noch teilweise ganzjährig bewohnte Dorf liegt am Fuße des Pizzo d’Ucello, der wegen seiner wuchtigen Nordwand auch „Matterhorn der Apuanischen Alpen“ heißt.
Im August 1944 töteten hier SS-Truppen 174 Menschen, vor allem Alte, Frauen und Kinder. Überall im Ort erinnern Gedenksteine an das Massaker, auf dem kleinen Friedhof oberhalb des Dorfs steht ein großes Mausoleum. Eine ältere Frau, die wir im Dorfladen treffen, erinnert sich noch gut und erzählt, wie sie als Dreijährige durch den Wald flüchtete, wie sehr die stachligen Kastanienhülsen in den nackten Füßen schmerzten und wie sie sich tagelang in einem hohlen Baum versteckte. Viele Orte in den Apuanischen Alpen litten unter der blutigen Repression, mit der die deutschen Besatzungstruppen den Widerstand zu brechen versuchten. Das schlimmste Massaker erlebte Sant’ Anna di Stazzema, wo die SS 560 Menschen tötete.
Auf der Bogenbrücke
Den Bus, der jeweils am frühen Nachmittag von Vinca ins Tal fährt, haben wir verpasst. Das ist nicht weiter schlimm, denn der alte Säumerweg nach Equi Terme hinab ist sehr schön angelegt und gut erhalten. Hoch über dem Lucido-Tal führt er der Bergflanke entlang auf die sanften Hügel der Lunigiana zu, die dem herkömmlichen Toskana-Bild eher entsprechen als die wilden apuanischen Gipfel.
Zwei Stunden später und 500 Meter tiefer stehen wir auf der alten Bogenbrücke des pittoresken alten Badeortes Equi Terme (284 m, zwei Stunden ab Vinca). Anmutig schmiegt sich der mittelalterliche Dorfkern an den Berg. Dahinter liegen in einer wasserreichen Schlucht die weitläufigen Höhlen „Buca“ und „La Tecchia“, die man besichtigen kann.
Schön ist es auch, im Freiluftbecken des kleinen Thermalbades zu plantschen oder sich hinter dem Hotel Terme ein schattiges Plätzchen am Fluss zu suchen. Im Juli und August ist der Andrang allerdings groß.
Von Equi Terme kann man mit Bus oder Zug nach Aulla und Carrara zurückfahren. Oder zu Fuß über das Bergdorf Monzone und das aussichtsreich gelegene Rifugio Carrara in die Marmorkapitale zurückwandern. Man kann mit der Regionalbahn in die abgelegene Garfagnana und weiter bis nach Lucca und Pisa fahren.
Wir bleiben vorerst hier, schlagen uns im Ristorante Da Felice die Mägen mit Steinpilzen und Testaroli al pesto voll und schlafen göttlich im dazugehörigen B&B Rode’s House, einer alten Villa am Eingang des alten Dorfs.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen