: Der Marburger
AUS ASCHAFFENBURG HEIDE PLATEN
Christoph Benesch denkt immer erst mal gründlich nach, bevor er spricht. Das ist schon am Telefon zu spüren. Wie man ihn erkennen könne? Der 47-Jährige überlegt lange, scheint sich selbst zu mustern und wenig Bemerkenswertes zu entdecken: „Ich trage ein weißes Hemd“, sagt er, „mit kurzen Ärmeln!“ Dann, zögernd: „Und eine Brille.“ Ein Outfit, das bei 30 Grad Außentemperatur auf dem Vorplatz des Aschaffenburger Hauptbahnhofs wahrlich nicht signifikant ist. Und dann ist er da, groß, schlank, unübersehbar. Mit kurzem, ergrauendem Haar, sanfter Stimme, Lachfältchen und blauen Augen.
Zum ersten Mal in seinem Leben, sagt er, habe er einen Leserbrief geschrieben, einen bösen. Der Neurochirurg am Städtischen Klinikum Aschaffenburg schrieb, die taz habe einseitig und „dusselig“ über den Ärztestreik berichtet: „Wir streiken für normale Arbeitszeiten und dass uns endlich die mitunter notwendigen Überstunden auch bezahlt werden! Haben Sie sich mal mit ein paar Ärzten unterhalten?“ Knapper Schluss: „Mit Grüßen – Benesch“.
Das Klinikum Aschaffenburg liegt in den Hügeln am Stadtrand, es ist seit den 70er-Jahren immer wieder erweitert und modernisiert worden. Oberarzt Benesch parkt sein Auto an der hinteren Einfahrt des roten Gebäudekomplexes. Durch den „Bauch“ im Untergeschoss führt er in seine Abteilung, die Neurochirurgische Klinik. Die Gänge sind so lang wie anderswo auch, dennoch freundlich gestaltet. Blumen, Bilder, Ruheecken und Spielgeräte für die Kinder. Das Personal muss sich bescheiden – Beneschs Büro, „mein Kabuff“, im Erdgeschoss ist klein und stickig, hat kaum Platz für ein paar Büromöbel. Computer, zwei Bücherregale, ein Ficus in der Ecke, ein knallroter moderner Sessel.
Im September 2005 ist Benesch in die Ärztegewerkschaft Marburger Bund (MB) eingetreten. Das habe er sich, sagt er, einst auch nicht träumen lassen: „Jetzt bin ich Mitglied in einem Verein, den ich mal für äußerst schändlich gehalten habe.“ Früher sei der MB „nur mit leicht hochnäsiger, arroganter Verteidigung seiner Pfründen“ beschäftigt gewesen. Benesch, Sohn einer Kunsthistorikerin und eines Psychologieprofessors, ist mit einem sozialen Gewissen aufgewachsen. Als Schüler und Student engagierte er sich zuerst für den Erhalt des Musikfestivals in seinem Heimatort Ingelheim, später für die Freiheit in Nicaragua. Er verweigerte den Kriegsdienst. Arzt, sagt er, sei er „nur durch Zufall“ geworden, eigentlich habe er Forstwirtschaft studieren wollen.
Benesch reiste als junger Mann nach Nicaragua: „Das war meine politische Weichenstellung“, sagt er heute. Er lernte dort einen engagierten Berliner Neurochirurgen kennen und änderte seine Lebensplanung. Er studierte in Bochum, Essen und Göttingen Medizin, promovierte später in Heidelberg. Seit sechs Jahren arbeitet er nun im Klinikum Aschaffenburg.
Sein Beitritt zum Marburger Bund sei auch als Kritik an der Dienstleistungsgewerkschaft Ver.di zu verstehen, für die er vor Jahren „durchaus noch Sympathie“ gehabt habe. Aber „die hatten immer Ressentiments gegen Akademiker. Das war ihr gut gekannter Klassenfeind in der Nachbarschaft.“ Die Interessen der Ärzte seien nicht wahrgenommen worden, „die hatten uns vergessen“. Diese Haltung habe sich schließlich letztes Jahr im Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst (TVöD) niedergeschlagen. Dieser Vertrag sei „ungerecht und unfair“, denn er schreibe längere Arbeitszeiten für Ärzte als für das übrige Klinikpersonal fest und er benachteilige sie in ihrer beruflichen Entwicklung.
Ganz anders sei das mit dem Marburger Bund. Dort könnten Ärzte sich artikulieren – und seien auch deshalb nun gehört worden: „Mit dem MB haben wir die Chance, uns freizuschwimmen und unsere Forderungen öffentlich zu machen.“ Zu lange habe man stillgehalten, den Frust runtergeschluckt. Benesch blättert einen Ordner mit Statistiken durch: 23 Prozent der Medizinstudenten geben schon im ersten Semester auf, noch einmal 24 Prozent arbeiten nach dem Staatsexamen nicht als Ärzte, weil sie die hohe Arbeitsbelastung, die langen Dienste, den lähmenden Verwaltungsaufwand fürchten: „Sie sind durch diese Mühle abgeschreckt.“ Viele seiner Kollegen seien ausgewandert. Dass die Ärzte gerade jetzt aufmucken, „dass wir uns trauen, frech zu sein“, liege zum einen daran, dass in den Krankenhäusern die Hierarchien durchlässiger geworden seien, zum anderen daran, dass die Zeit der Ärzteschwemme vorbei sei, dass Mediziner gebraucht würden: „Wir sind zu wenige!“
Akribisch listet Benesch auf, was er vom Dienstbeginn um 7.30 Uhr an zu tun hat. Der Tag ist minutengenau eingeteilt, 15 Minuten für die Visite, 30 für die Frühbesprechung. Dann steht er im Operationssaal, Bandscheiben vor allem, Hirnblutungen, Hirntumoren. Wenn Notfälle vorgezogen werden müssen, arbeitet er länger, um angemeldete Patienten „nicht zu enttäuschen“. Er ist auf die Behandlung von Kindern spezialisiert und tut diese Arbeit „sehr gerne. Es entsteht oft eine Beziehung zwischen den Kindern und mir als Operateur.“ Gehirntumoren bei Kindern, sagt er, seien „gar nicht so selten“, sie stünden an fünfter Stelle bei den Todesursachen.
Dienstschluss 15 oder 16 Uhr? „Unsinn, da geht es oft erst richtig los!“ Er führe nachmittags, also auch nach Feierabend, Gespräche mit den Patienten und deren Angehörigen, die natürlich einbezogen werden sollen.
Benesch ist sauer. Auch darüber, dass den Ärzten in der Öffentlichkeit immer wieder vorgeworfen wird, sie stellten unangemessen hohe Forderungen. Von 30 Prozent mehr Gehalt könne überhaupt nicht die Rede sein, „wenn man das richtig durchrechnet“. Zum einen wolle er endlich die Bezahlung seiner tatsächlichen Arbeitszeit nebst monatlich 160 bis 230 Überstunden, zudem die Anerkennung der Bereitschaftsdienste als reguläre Arbeitszeit. Für die Dienstbereitschaft zwischen nachmittags um vier und morgens halb acht bekomme er 71,08 Euro vergütet, das sei nicht in Ordnung. Geteilt durch 15,5 Stunden, ergebe das 4,58 Euro Stundenlohn: „71 Euro – so viel bekommt ein Elektriker in einer Stunde plus Anfahrt.“ Während der Bereitschaft müsse er zu Hause bleiben, habe keine Zeit für Unternehmungen mit seiner Frau und den drei Kindern; kein Freibad, kein Alkohol. „Meine Frau erleidet das manchmal, obwohl sie ebenfalls Ärztin ist.“
Beziehungen außerhalb der eigenen Berufsgruppe seien für viele Ärzte schwierig, nur wenige hätten Verständnis für solch ein Leben. Wenn er tatsächlich nachts zum Einsatz müsse, gebe es zwar mehr Geld, aber am nächsten Tag sei die Leistungsfähigkeit doch eingeschränkt. Aus Verantwortungsgefühl müsse er dann manchmal sagen, er sei „zu müde für den OP. Dann gehe ich nach Hause.“
Dass es den Verband Kommunaler Arbeitgeber (VKA) freuen muss, wenn sich die Arbeitnehmer streiten, findet Benesch „beschissen“. Die gerade erzielte Einigung zwischen VKA und Ver.di hält er für „eine Phantomveranstaltung. Die schließen nicht für uns ab.“ Tatsächlich vertreten beide Organisationen gerade mal 1.400 der 70.000 Ärzte an kommunalen Kliniken – der Marburger Bund 50.000. Dass Ver.di die laufenden Verhandlungen unterlaufen hat, sagt Benesch, „ist ein zusätzlicher Affront.“
Klar, das Ver.di-Argument, dass Mehrzahlungen an Ärzte von den Kliniken beim restlichen Personal wieder eingespart werden müssten, sei „nicht völlig von der Hand zu weisen“. Aber eine Gewerkschaft, die sich nicht für alle Berufsgruppen gleich einsetze, laufe in eine Sackgasse. Und ein Gesundheitssystem, das nur auf der unbezahlten Mehrarbeit der Mediziner aufbaue und ansonsten zusammenzubrechen drohe, habe einen Knacks: „Wir Ärzte werden in Haft genommen, weiter massenhaft Überstunden zu schieben!“
Benesch führt durch die Gänge, vorbei an den Krankenzimmern, Arbeit genug für alle, „ein Fahrradunfall, ein Autounfall, eine ältere Patientin mit Hirnblutung, ein Alkoholdelirium, ein Herzinfarkt“. In der Kinderklinik sitzt sein Kollege Manuel Wilhelm, er ist der Sprecher des Streikkomitees. Eigentlich kann er Formulare für alles und jedes, Kostenabrechnungen über jeden Cent nicht mehr sehen. Nun aber hat er selber mal eine Liste gemacht, hat aufgeschrieben, wie so ein Arztarbeitstag aussieht: Keine Schicht endet pünktlich, steht da, das Frühstück nachmittags, das Mittagessen abends, „eine Banane“, durchgearbeitet von neun Uhr morgens bis kurz vor Mitternacht, pausenlos Behandlungen, Elterngespräche, Entlassungen, Neuaufnahmen.
Auch Wilhelm will Gerechtigkeit „wie für den Koch in der Küche“. In Aschaffenburg wird ab Dienstag mit Klinikleitung und Krankenhauszweckverband über einen vorläufigen Haustarif verhandelt. Basis werden die Tarifregelungen der Länder (TDL) und die Forderungen des MB sein. Der Haustarif soll nur eine Interimslösung sein, bis die Verhandlungen mit dem Marburger Bund erfolgreich abgeschlossen sind. Sollte es keine Einigung geben, werde der ausgesetzte Streik auch in Aschaffenburg weitergehen. Man habe moderat angefangen, sei aber steigerungsfähig, „mit langem Atem“, sagt Manuel Wilhelm, auch ohne Streikkasse: „Ein halbes Jahr halten wir das noch durch.“
Aus der Station heraus führt Benesch vorbei an den Zimmern der Kolleginnen und Kollegen. An manche Türen klopft er, guckt hinein. Alle sollten längst Feierabend haben, keine, keiner ist pünktlich nach Hause gegangen. Sie sitzen an den PCs und erledigen den „Schreibkram“, sortieren die „leistungsfähigen“ Behandlungsschritte. Benesch verweist zum Abschied auf die neue Abteilung für Palliativmedizin, hier werden Sterbende behandelt und begleitet. Er will diesen einen Satz unbedingt noch loswerden: „Nächstenliebe ist nicht abrechenbar.“
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