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Sieben blinde Raketen

Post aus Nahost (10): Ron Kehrman besucht Deutschland und kann seine Heimat Israel trotzdem nicht verlassen

Ich sitze im Zug nach Süddeutschland. Gerade haben wir uns von Freunden verabschiedet, die ich seit 30 Jahren kenne – im selben Bahnhof, in dem wir uns vor 30 Jahren kennen gelernt haben. Wir hatten gegrillt, das Wetter war gut, nicht zu heiß, nicht zu kalt, genau richtig. Der Tisch war schön gedeckt mit farbenfrohem Essen, und auch die verschiedenen Sorten von Fleisch waren sehr lecker.

Ich habe es sogar geschafft, mich von diesem Medienwahnsinn zu befreien, den ich aus Israel zu meinen Freunden nach Dortmund mitgebracht habe. Beim Essen sprachen wir über Alltägliches und erzählten uns Geschichten aus unserer gemeinsamen Vergangenheit; die guten Zeiten, die wir zusammen hatten; ihre Besuche in Israel vor ein paar Jahren. Diesmal wagte ich es nicht, sie in absehbarer Zeit nach Haifa einzuladen.

Plötzlich klingelte mein Handy, das ich immer bei mir habe. Die Stimme am Telefon fragte: „Bist du okay, Ron?“ – „Ja“, antwortete ich sofort, „ich bin okay, ich bin bei Freunden in Deutschland.“ Mein Freund stieß einen Seufzer der Erleichterung aus und erzählte mir, noch bevor ich ihn fragen konnte: „Haifa ist von sieben Raketen getroffen worden, einige Leute wurden getötet und mehr als 30 verwundet. Ich wollte nur deine Stimme hören und wissen, wie’s dir geht.“

Von diesem Augenblick an war ich zurück in Haifa. Zwar wollte ich noch das Essen beenden, aber, um ehrlich zu sein: Es fiel sehr schwer, am Tisch sitzen zu bleiben. Ein paar Augenblicke später war ich schon im Internet und sah die israelischen TV-Nachrichten mit Live-Aufnahmen aus Haifa. Anhand der Bilder versuchte ich, den Einschlagort der Raketen herauszufinden – es sah aus, als wären sie nahe meiner Druckerei heruntergekommen, aber sicher war ich mir nicht. Ich suchte noch nach anderen Bildern, um Gewissheit zu haben, als mir mein Freund Jossi per SMS die Nachricht schickte, dass meine Druckerei nicht getroffen worden sei. Die Szenen aus Haifa waren schrecklich. Szenen, wie wir sie von Terroranschlägen all die Jahre gewohnt waren, nur dass diesmal unsere Häuser einstürzten.

Es war schwer, die nette Stimmung wieder aufzugreifen, mit der der Abend begonnen hatte. Wir schauten Nachrichten im deutschen Fernsehen, wo ich nur erfuhr, was ich eh schon wusste. Mein Freund Martin und seine Frau Martina boten uns an, länger in Dortmund zu bleiben, bis zum Ende des Krieges. Dieses Angebot hat mich sehr gerührt.

Bevor ich schlafen ging, checkte ich im Internet die neuesten Nachrichten. Es hatte sich inzwischen herausgestellt, dass zwei von drei Toten muslimische Araber aus Haifa waren, von einer blinden Rakete aus dem Südlibanon zerrissen. Wann wird das aufhören? Wird es aufhören?

Ron Kehrman schreibt im Wechselmit Iman Humaidan Junis aus demKriegsgebiet.Aus dem Englischen von Arno Frank

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