: Lauter Tadel hört sich anders an
Angela Merkel unterdrückt keine Debatten, die andere Parteigranden als „schrecklich schwatzhaftes Sommertheater“ bezeichnen, sie lässt sie laufen
AUS BERLIN LUKAS WALLRAFF
Sie kommen Seit an Seit. Es soll ein Zeichen sein. Angela Merkel und Jürgen Rüttgers wissen genau, dass sich alle Augen – und vor allem alle Fernsehkameras – auf sie richten. Wie werden die CDU-Chefin und ihr rebellischer Vize miteinander umgehen, wenn sie nach ihrem öffentlichen Streit erstmals aufeinandertreffen? Das scheint für viele die interessanteste Frage zu sein bei einer Veranstaltung, die eigentlich mehr sein soll als ein Schaulaufen. Viel mehr.
Es soll ums große Ganze gehen, um den Kurs der Partei, um das Selbstverständnis der Union. Jenseits der Tagespolitik will die Union darüber diskutieren, wie sie langfristig mit neuen Herausforderungen umgehen will: Globalisierung, Terrorismus, Folgen der Wiedervereinigung. Doch das alles ist sehr kompliziert. Und „Grundsatzprogramm-Kongress“ klingt dröge. In den Vorberichten ging es deshalb vor allem um das Duell Merkel gegen Rüttgers. Schließlich hatte der nordrhein-westfälische Ministerpräsident vor dem Kongress rhetorisch kräftig draufgehauen. Es sei eine „Lebenslüge“ der CDU, dass niedrige Steuern Arbeitsplätze brächten. Der Partei fehle soziales Profil. Das klingt spannend, nach bösem Streit, nach einem Angriff auf die Chefin.
Diesen Eindruck wollen Rüttgers und Merkel korrigieren. Weil alle Demoskopen sagen, dass offener, bitterböser Streit innerhalb einer Partei vom Wahlvolk nicht goutiert wird, demonstrieren sie nun Einigkeit: Trotz aller Meinungsverschiedenheiten raufen wir uns zusammen, wollen Merkel und Rüttgers sagen, wir haben ein gemeinsames Ziel: Dass die CDU voran und aus dem tiefen Tal der Meinungsumfragen (zuletzt nur noch 30 Prozent) herauskommt. Deshalb die Versöhnungsgeste.
Die eigentliche Überraschung aber folgt mit Merkels Rede. Nach der kurzen Referenz an die Regeln des Politmarketings (piep, piep, piep, wir haben uns alle lieb) verstößt sie gegen eine andere Regel. Gegen jene weit verbreitete Erwartungshaltung, die besagt, dass Parteivorsitzende Führungsstärke dadurch zeigen, indem sie jeglichen Anflug von Streit sofort unterbinden, Störenfriede ruhigstellen, verbal auf den Tisch hauen, am besten ein Machtwort sprechen müssen. Oder – wie manche Parteifreunde verlangten – bitte endlich klar die Richtung vorgeben.
Zu kapitalistisch sei die CDU, hatte Rüttgers kritisiert. Quatsch, die CDU sei in der großen Koalition viel zu lasch, fast schon sozialdemokratisch, riefen andere, vor allem vom Wirtschaftsflügel. Sie wüssten nicht mehr, was sie den Wählern sagen sollen, wo die CDU stehe, klagten basisnahe Funktionäre am Vorabend des Kongresses. Und was macht Merkel? Sie gibt Rüttgers nur indirekt einen kleinen Nasenstüber. „Manche haben sogar die deutsche Einheit als Lebenslüge bezeichnet“, sagt Merkel. „Und sie ist doch gekommen.“ Ein lauter Tadel hört sich anders an. Merkel betont vielmehr, dass sie nichts gegen unterschiedliche Wortmeldungen habe. „Wir stehen am Anfang einer Debatte über das neue Grundsatzprogramm“, sagt Merkel am Anfang ihrer Rede. „Da liegt es in der Natur der Sache, dass wir auch Fragen stellen, dass wir Rat holen.“ Erst in einer zweiten Phase werde man über kontroverse Punkte abstimmen – und Ende 2007 das neue Programm beschließen.
So unterdrückt man keine Debatten, die Innenminister Wolfgang Schäuble als „schrecklich schwatzhaftes Sommertheater“ bezeichnet hatte, so lässt man sie laufen. Ja, Merkel animiert ihre Partei sogar, weiter über den eigenen Kurs zu reden und wenn nötig, auch zu streiten. Ihre eigenen Vorgaben formuliert sie vorsichtig, nicht im Duktus der Besserwisserei, sondern deutlich um Ausgleich bemüht. Die Union, sagt Merkel, dürfe „nie Partei nur für eine Gruppierung“ sein. Rüttgers, der Kämpfer für Gerechtigkeit, Merkel, die Verfechterin der Freiheit – auf diesen zugespitzten Gegensatz lässt sich Merkel nicht ein. Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität, sagt sie, blieben auch in Zukunft die drei Grundwerte der CDU, und „für mich gibt es keine Hierarchie unter diesen Grundwerten“.
Merkel gibt keine neuen Parolen aus. Sie zitiert. Konrad Adenauer habe gesagt: „Der Wert jedes einzelnen Menschen ist unersetzlich.“ Dies müsse weiter Richtschnur sein. Auf konkrete Beispiele verzichtet sie. Als Gewissheit verkündet sie nur, dass sich die Union am christlichen Menschenbild orientieren müsse. Und sie sagt: „Das christliche Menschenbild ist nicht für Deutschland alleine gemacht.“ Was das bedeutet, sagt sie nicht. Sie sagt: „Darüber wird auch zu sprechen sein.“ Merkel bleibt konsequent vage. Das gehört zu ihrem Verständnis einer offenen Debatte – so kann man es sehen und als Stärke interpretieren.
Eine Vorsitzende, die keine simplen Antworten parat hat, geht aber auch ein Risiko ein. Das Risiko, dass andere Antworten geben. „Ich meine das ernst“, sagt Rüttgers in der anschließenden Podiumsdiskussion über seine Kritik am Kurs der Partei. „Wir dürfen nicht alle Lebensbereiche durchökonomisieren.“ Wir – das heißt auch: Merkel darf das nicht, und ich sage das weiter überall.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen