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lippenblütler heilen den kopf von ULRIKE STÖHRING

In Zeiten des Kummers neigt der Mensch naturgemäß zur Sublimation. Mancher liest zum Beispiel mehr als gewöhnlich, schon um nicht toxische Mengen Alkohols zum Einschlafen zu benötigen. Als Sedativa bieten sich sechs Bände Thomas Mann oder auch Autobiografien deutscher Politiker an. Da mir davor zu sehr graute, nahm ich das 1958 erschienene Büchlein „Kaiserkron und Päonien rot. Kleine Kulturgeschichte der Blumen“ von Gabriele Tergit zur Hand. Doch das Werk stellte sich als äußerst spannend heraus. Tergit gehörte von 1925 bis 1933 zur Redaktion des Berliner Tageblatts und schrieb für die Weltbühne. Bekannt wurde sie durch den komischen Kolportageroman „Käsebier erobert den Kurfürstendamm“ aus dem Jahr 1931.

Angefangen mit der Päonie der Chinesen und der Lotusblume der Ägypter, dem Beginn der Botanik, kämpft sie sich über Friedrich den II. und Albertus Magnus bis zur Arbeiterblume vor. Arbeiterblumen wurden von den flämischen Webern, die vor dem Hunger nach England flohen, seit Beginn des 19. Jahrhunderts und angeblich nur von diesen zum Erblühen gebracht. Ob dieses historische Detail in Friedrich Engels’ „Lage der arbeitenden Klasse in England“ wohl erwähnt wird? Ich erinnere mich nicht …

Neben den unsäglichen Nelken, mit deren Nachfahren weibliche Berufstätige noch bis zum allerletzten Frauentag in der DDR beglückt wurden, zogen die Arbeiter in ihrer knappen Freizeit Primeln, Tulpen, Ranunkeln und vor allem das unverwüstliche Stiefmütterchen. Dessen strenge Zuchtregeln wurden 1841 von der eigens gegründeten Stiefmütterchengesellschaft aufgestellt. „Noch heute hängt in manch einem Wirtshaus ein vergilbtes Gruppenbild von bärtigen Männern im schwarzen Sonntagsrock, eine Glocke auf dem Kopf, mit ihrem Geistlichen in der Mitte, das am Preisverleihungstag der Aurikelgesellschaft des Ortes aufgenommen war“, schreibt Tergit. Das stelle ich mir sehr schön vor: „Schatz, du willst doch nicht etwa in die Kneipe?“ – „O nein, Liebling, ich gehe zur Stiefmütterchengesellschaft!“

Bis zum Einsetzen der mythopoetischen Männerbewegung vor der letzten Jahrtausendwende war die esoterische Verwendung wehrloser Blumen wohl dem weiblichen Geschlecht vorbehalten. Lippenblütler sollen den Kopf heilen, Kreuzblütler helfen gegen tieferliegende Leiden. Tergit lässt uns wissen, dass Blumen, die man in der Mittsommernacht pflückt, besonders glücksbringend für die Partnerwahl seien. Womöglich, weil man gefastet haben muss und kein Wort sprechen darf? Stammt etwa die Devise „Dünn sein und Klappe halten, dann klappt’s auch mit dem Nachbarn“ aus vorchristlicher Zeit?

Auch die anderen Anleitungen zur weiblichen Liebesbeschwörung hören sich eher anstrengend an. Der Leserin auf Liebessuche wird beschieden, dass sie aus neun in der Johannisnacht gepflückten Blumen einen Kranz zu winden und ihn auf einen Baum zu werfen habe. Doch jedes Mal, wenn der Kranz nicht auf einem Zweig hängen bleibt, bedeutet das, dass sie noch ein Jahr warten muss.

Na, danke schön. Da halte ich mich doch lieber an die Arbeiterblume und kräftige Lippenblütler aller Art.

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