Jan Feddersen über PARALLELGESELLSCHAFT: Per Kickdown zurück ins wahre Leben
Ein unerwartetes Abenteuer im Schritttempo: mit dem Automobil quer durch die Freiburger Vauban-Siedlung
Meine Freundin Marie fährt ungern Auto, und wenn ich sie in Deutschsüdwest besuche, bremst sie, hat sie mich ans Steuer gelassen, mit wie die schlimmste Beifahrerin, aber ansonsten sagt sie: „Ich habe alles Vertrauen zu dir, nur wenn du bitte auf die Bordsteine Acht geben würdest, ist alles schon sehr rechtsläufig.“
Nein, das konnte ich ihr nicht abschlagen. Ihr nicht, der Gegend nicht. Freiburg, Kaiserstuhl, die nahe Grenze zum Frankophonen, Schauinsland. Nie das Tempolimit überschreiten, nicht mal aus Trotz, jede Tempo-30-Zone wörtlich genommen: Das ist schon ein feiner Flecken Deutschland, dieses Freiburg & Drumrum, ein grüner vor allem, samt Stadtvor- und -versteher Salomon (sic!).
Nun sagt die gute Freundin, man könne sich doch jetzt mal angucken, wo das ganz andere, das moderne, ja naturnah einfühlsame Siedeln und Sesshaftwerden begründet sei. So fuhren wir dann am Elendsviertel mit seinen beiden Hochhäusern vorbei, ein Quartier übrigens, das nur einen Straßenzugang hat und natürlich am Rand von allem liegt, und kamen nach – Vauban. Das ist ein ehemaliges Kasernengelände, bis 1992 darauf französische Truppen. Ein hübsches Areal, das ein wenig mich erinnern ließ an eine Kleinanzeige, die vor 25 Jahren in der Rubrik „Wohnen & Wohngemeinschaften“ der taz zu lesen stand: „Sanfte WG gesucht. Möglichst Bauernhof in Rathausnähe“.
Plötzlich kreischte die Freundin: „Nicht schneller als 15, besser nur 10. Die springen dir hier aufs Auto. Auf mein Auto.“ Und leise, erschöpft nach ihrem Besorgnisanfall: „Die kennen da irgendwie keinen Spaß.“ Seither mag ich Vauban. Schätzungsweise 1.000 Menschen, die ihren Traum eines programmatisch astrein ökologischen Wohnens verwirklicht haben. Mit eigener Webseite, dort mit Suchanzeigen und Bekanntgaben, Vätergruppen, Atmungsseminaren und Getrenntmüllermahnungen. Neulich schrieb die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, dort sei die in Deutschland größte Dichte an Salzkristalllampen zu finden – aber das ist ebenso gemein zu notieren wie verständnislos: Was ist gegen diese Illuminationen schon zu haben, außer dass man sie für Quatsch hält? Außerdem mag die Angabe stimmen. Aber in der Erinnerung bleibt vor allem haften: Es liegt eine unfassbare Stille über der Siedlung. Ein wenig so kalmiert wie in der Wohngenossenschaftsanlage am Rande Hamburgs, aus der, nachdem alle Kinder ausgezogen und das Weite gesucht haben, die Erstmieter nicht wegwollen, alt werden – und selbst sommers nach der „Tagesschau“ die Jalousien herunterlassen.
Trotz abendlich schwüler 33 Grad im Schatten. Vauban jedenfalls ist dieses Idyll am nächsten Saum der Innenstadt, hier ist ein Dezibelparadies, in dem allenfalls innere Stimmen lärmen, aber die hören wir nicht.
Als wir um eine Ecke fahren, wollte Marie gerade wieder etwas sagen, aber ich entschleunigte unser Fahren schon von selbst auf etwas zügigere Schrittgeschwindigkeit. Ein Junge mit Holzdreirad wandert aus einem Gebüsch und guckt uns an wie ein waidwundes Reh. Wir rufen: „Keine Angst, wir kommen nur von auswärts.“ Und er trottet davon. Auch er ein Nachwuchs dieser Parallelwelt, keine Frage. Doch haben Eltern als solche nicht immer schon geglaubt, alle Kinder seien unartig, nur die eigenen nicht? Die werden nicht echt pubertär, die lehnen sich nicht auf, auch sie werden Montessori und Ganzheitstherapien kennen, ihre Eltern lieben und verehren, die werden nobilitieren, wofür sie sich entscheiden: ein Viertel aufzubauen voller Desperate Housewives, nur auf Öko? Ein Quartier wie eine grüne Volksgemeinschaftsphilosophie der ersten Stunde?
Die Kinder werden sich Musikgeräte wünschen, sie werden irgendwann Metall und Benzin mögen, Mofas und schlimme Musik. Es sind die Erben ihrer Eltern, die Protest auch gut fanden und ihn auf ihre Weise lösten. Die letzten fünf Straßenmeter Vauban, ich drückte echt auf die Tube, Marie war einverstanden: 31 km/h ! Es war wie ein Kickstart ins wahre Leben zurück.
Fragen zu Vauban? kolumne@taz.de Morgen: Philipp Maußhardt über KLATSCH
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