piwik no script img

Schlesier kriegen keine Lolas

Am Ende reimt sich der Nonsens sogar, aus dem René Pollesch in seinem Stück „L’Affaire Martin! etc.“ eine filmkritische Diskursmaschine baut. Die peinlichen Selbstinszenierungen der Filmbranche liefern ihm gute Vorlagen

René Pollesch ist zwar in erster Linie Theaterregisseur und -autor, er ist aber zugleich – wenn auch unbemerkt von der filmkritischen Öffentlichkeit und um ungewöhnliche Mittel nicht verlegen – Filmkritiker, -analytiker und -historiker. Und das von der Sorte, wie man sie im deutschen Feuilleton mit der Lupe suchen muss. Pollesch fragt nicht nach Stars und Glamour und Gefühlen, sondern nach Diskursen, er hat keinen Respekt vor den peinlichen Selbstinszenierungen der Filmbranche, und er stellt die interessanteren Fragen.

In „Cappuccetto Rosso“ etwa wollte er wissen: Was macht es mit Bruno Ganz, wenn er den Nazi spielt? Warum wollen heutzutage so viele deutsche Filmemacher den Nazi als Menschen porträtieren? Am Ende von „Cappuccetto Rosso“ wusste man mehr über Ernst Lubitsch, Oliver Hirschbiegel, Bernd Eichinger und „Napola“, als Frank Schirrmacher in 20 FAZ-Feuilletons hätte ausbreiten können.

Die neue Inszenierung – wegen Umbauarbeiten im Prater findet sie im großen Haus am Rosa-Luxemburg-Platz statt – betreibt erneut Filmanalyse. Der Titel ist gepflegter Aberwitz: „L’affaire Martin! Occupe-toi de Sophie! Par la fenêtre, Caroline! Le mariage de Spengler. Christine est en avance.“ Pate hierfür stand der französische Vaudeville-Dramatiker Georges Feydeau (1862–1921), dessen Verwechslungskomödien in der Inszenierung nachklingen, wie Ernst Lubitschs „To Be Or Not To Be“ in „Cappuccetto Rosso“ ein Echo fand.

Der Diskursstrom, den Pollesch durch Bert Neumanns Bühnenbild, einen Salon mit Kamin, standesgerechten Nussbaummöbeln und komödienhaft schlagenden Türen, zirkulieren lässt, mäandert. Leitmotiv ist die Frage nach dem Anderen. Ein Regisseur namens Florian Hencker von Donnersmarck, in Gestalt von Sophie Rois, will einen Film drehen: „Das Leben der Anderen“. Aber Rois/von Donnersmarck, in schwarzer, knielanger Hose, High Heels und blonder Langhaarperücke, ist sich nicht sicher: „Das Leben der Anderen, was könnte das sein?“

Caroline Peters weiß es – sie gibt Erika von Steinbach, Präsidentin des Vertiebenenverbandes. „Wir sind die Anderen. Wir werden als Schlesier orientalisiert.“ Also: einen Film über die Schlesier drehen? Aber nein: „Das Leben der Schlesier kann niemand nachvollziehen“, sagt Peters/von Steinbach. Zu viele Geheimbünde. „Dafür kriegen wir keine Lolas!“ Dem Kamin entweicht unterdessen rot leuchtender Kunstnebel in dicken Schwaden, eine Erinnerung an die verlorenen Hochöfen, für die Peters/von Steinbach heute gerne Reparationszahlungen von Polen sähe.

Das Schlesien-Sujet reichert sich mit weiteren Schichten an. Martin Wuttke bringt den Film „Gorillas im Nebel“ ins Spiel, in dem eine britische Wissenschaftlerin in den Gorillas Tansanias das Andere findet. Eine „Heilsgeschichte“, findet Wuttke, da sie die „Versöhnung von Natur und Technik“ propagiere – auf Kosten der Tansanier, die aus dem Film verschwinden. Müssen Filme immer solche falschen, reaktionären Geschichten erzählen? Oder kann man zur Abwechslung auch einen Film mit Bakterien drehen? Wie kann man erzählen, wenn man nicht mehr von Protagonisten und Psychologien ausgehen will?

„L’affair Martin! etc.“ fehlt zwar die Intimität, die Polleschs Stücken im Prater eignet. Das Publikum sitzt nicht im erweiterten Bühnen-, sondern im klar abgegrenzten Zuschauerraum, von der Lust der Schauspieler an ihrem Tun ist es deswegen isoliert. Das schränkt die Freude an Polleschs scharfsinniger Diskursmaschine ein wenig ein.

Doch das Finale erreicht wieder das Stadium der Entfesselung, das „Cappuccetto Rosso“ von Anfang bis Ende prägte. Wenn Caroline Peters hinter der Bühne, via Videoeinspielung, und Sophie Rois auf der Bühne zu memorieren versuchen, in welchem Weinglas der vergiftete Wein ist, schießen die Reime in wunderbarem Nonsens über die Bühne: „Enthält der Pokal mit dem Portal den Wein mit der Pille? – „Nein, der Wein mit der Pille ist im Becher mit dem Fächer.“ – „Der Fächer mit dem Becher. Der Becher mit dem Fächer. Und was ist mit dem Pokal auf dem Portal?“ Ganz am Ende schauen alle zufrieden auf den Screen überm Kamin. Kein Einwand mehr gegen die Leinwand.

CRISTINA NORD

„L’affaire Martin! etc.“, wieder in der Volksbühne am 13., 17., 27. Oktober und 11. November

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen