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Die fast vergessenen Fjorde

ISLAND Die Westfjorde sind in Island ein Mythos: Die Idee von absoluter Einsamkeit, vom einfachen Leben in extremer Umgebung prägt bis heute das Selbstbild der Isländer. Doch der Mythos wird der Region zum Verhängnis – denn leben möchte hier fast niemand mehr

Die Westfjorde

■ Die Region: Die Westfjorde sind eine der entlegensten Gegenden Islands. Nur eine schmale Felszunge verbindet die Halbinsel im Nordwesten mit dem Rest des Landes. Wer Glück hat, kann entlang der Fjorde Steinadler oder auch Schwertwale beobachten. Ein guter Ausgangspunkt für Wanderungen sind die vielen kleinen Gästehäuser entlang der Küste. Infos: www.westfjords.is

■ Die Menschen: Von den knapp 7.000 Bewohnern der Fjorde leben die meisten auf Höfen oder in Dörfern am Rand der endlosen Schotterstraßen, die sich an der Küste entlangwinden. Die Zahl der Einwohner der Fjorde hat sich seit den Fünfzigern halbiert. Zum Vergleich: Die Hauptstadt Reykjavík ist seitdem auf mehr als das Dreifache gewachsen – dort leben derzeit über 200.000 Menschen.

■ Der Wandel: Die Entwicklung in den Westfjorden ist typisch für ganz Island: Traditionelle Berufe sind auf dem Rückzug, die Menschen ziehen in die Stadt. Die Anzahl der Arbeiter in Landwirtschaft und Fischerei ist seit Anfang der Neunziger um mehr als 30 Prozent gesunken. Doch es gibt auch Gegenbewegungen: Viele junge Isländer liebäugeln mit dem einfachen Leben auf dem Land.

VON URS SPINDLER

Irgendwo in den Westfjorden löst sich das Straßengewirr, und es bleibt ein einziger Weg. Die Autoscheinwerfer erhellen Geröll und braune Grasbüschel, Felskanten durchstoßen die Schneedecke am steil abfallenden Hang. Die Eiskruste knirscht unter den Reifen. Am Rand der überfrorenen Schotterstraße blitzen Schafsaugen, die katzenartig das Licht reflektieren. Es geht bergab. In der Ferne ragen mächtige Felswände empor, kantig und rabenschwarz vor dem nachtblauen Himmel. In diesem Moment erinnert man sich an den Satz von Halldór Laxness: Die Menschen verließen die Fjorde im Westen, schrieb der isländische Literaturnobelpreisträger 1952, „weil es ihnen vor der gewaltigen Landschaft jener Gegenden graust“. Und es fühlt sich so an, als würden die Gipfel hinabblicken auf die Ödnis im Tal und den kleinen Scheinwerferkegel, der sich immer tiefer in die Dunkelheit bewegt.

Wie kann man in diesen Fjorden leben? Die Frage stellen sich auch viele Isländer. Schon seit Laxness’ Zeiten ziehen die Menschen weg. Während sich die Einwohnerzahl Islands seit den Fünfzigern verdoppelte, halbierte sie sich in den Westfjorden. „Wer wohnt hier freiwillig? Wovon kann man hier leben? Wie ist es überhaupt möglich, hier zu leben!?“, schreibt Stadtmensch und Schriftsteller Huldar Breidfjörd in seinem Roman „Liebe Isländer“, der im Buchmesse-Jahr auch in Deutschland erschien. Er lässt seinen Protagonisten die gleiche Straße fahren, hinein in den Ísafjardardjúp. Er muss ähnlich gefühlt haben, als die Berge auf ihn herabblickten und er der Talstraße eine Stimme gab: „Wer glaubst du zu sein, Reykjavík-Bürschchen. Glaubst du, du kommst an mir vorbei!?“

Ganz tief im Djúp, kurz bevor sich die Bergflanke steil in Richtung einer hellen Gletscherzunge emporschwingt, glimmt ein einzelnes, gelbes Licht. Es ist das Haus von Tordur Halldórsson, ein flacher, eckiger Bungalow mit großer Fensterfront. In der Diele stehen zwei Reihen Schuhe. Seine Frau bringt gerade die beiden Kinder zur Schule, in das 400-Seelen-Dorf Hólmavík auf der anderen Seite des Bergpasses Steingrímsfjardarheidi. Sie arbeitet dort als Erzieherin.

Wer die Westfjorde kennenlernen will, muss die Menschen kennenlernen – das war der Rat von Huldars Freunden in Reykjavík. Und Tordur kennt hier jeden: Er ist der Postmann im Ísafjardardjúp. Montags, mittwochs und freitags fährt er 280 Kilometer, um die Post für 15 Höfe auszuliefern. Ist das Wetter gut, nimmt er den kleinen Skoda. Wenn es schneit und stürmt, steigt er auf den Toyota-Jeep um. Er ist aber auch schon mit dem Schneemobil zur Poststation im 60 Kilometer entfernten Reykjanes gefahren, um die Briefe einzusammeln. „Die Leute verlassen sich auf mich“, sagt Tordur.

Heute ist ein Tag für den Jeep: Minus fünf Grad, die Straße ist überfroren. Tordur streicht mit dem Finger über den Tablet-Computer auf dem Küchentisch. Die Webcams der Straßenwacht zeigen schwarze Fahrspuren im Schnee, zwischen den gelben Begrenzungspfählen. Das System registriert auch die Vorbeifahrten auf der Straße nach Hólmavík. Vier seit Mitternacht. „Das wart ihr, meine Frau, mein Nachbar und vielleicht noch ein Lastwagen“, sagt Tordur und grinst.

Bergauf beschleunigt Tordur den schweren Geländewagen, und man ist dankbar – nur raus aus diesem düsteren Tal. Im Osten hellt der Himmel langsam auf. Wolken verschleiern die schneeweißen Bergspitzen in der Ferne, die nördlichsten Flanken des Ísafjardardjúp. Wo die Nordwinde aufprallen, sind die Felsen überfroren, eine Bergwindung weiter ist der Schnee schon geschmolzen. An einer Gebirgsflanke winden sich dampfende Flüsschen herab, dort sprießt grün in der steinigen Ödnis. Das ist das andere Gesicht der Westfjorde, das seit je Künstler und Schriftsteller hier hinauslockt. Die beinahe unberührte Natur. Ein menschenloser Fjord.

Ein Betonblock ragt aus dem Wasser, der Rest einer Anlegestelle. Früher verbanden Fähren die Höfe in der Region. „Damals lebten noch 200 Menschen allein auf unserer Seite des Fjords. Heute sind es noch 20“, sagt Tordur.

Sein Großvater kaufte 1916 den Hof namens Laugaland, was so viel heißt wie „Land der heißen Quellen“. Tordurs Mutter Ása lebt noch im alten Farmhaus, das eines der ersten Steinhäuser in der Gegend war. Bis die verspätete Industrialisierung Island in den Fünfzigern erreichte, standen vielerorts noch die Tiere im Keller, um den Bewohnern Wärme zu spenden. „Im Winter haben die Bauern mit Schafskot geheizt und gegessen, was sich fermentieren ließ“, erzählt Tordur.

Die Duldsamkeit und knorrige Entschlossenheit der Menschen auf dem Land – sie ist auch durch ihre Beschreibung in den Romanen von Nationaldichter Laxness zum Mythos geworden. Nur dass es kaum noch Bauern in den Westfjorden gibt. „Hier leben noch ein paar Dutzend Menschen. Und die meisten sind älter als ich“, sagt Tordur. Er ist 53. Tordur selbst hegt noch 140 Schafe. „Eigentlich mehr ein Lebensstil als profitable Landwirtschaft.“ Das seine Kinder mal übernehmen werden, glaubt er nicht. „Die Landwirtschaft hat hier als Erwerbsmodell kaum eine Zukunft.“ Er glaubt an einen anderen Weg: Tourismus.

Nach einer halben Stunde Fahrt hält er vor dem Hotel Reykjanes. Zwei lang gezogene, graue Riegel, zwei Stockwerke hoch, davor ein dampfender Swimmingpool. Das Gebäude war früher mal eine Schule, jetzt starten von hier aus die Nordlichttouren für Touristengruppen. Auf dem Parkplatz stehen ein wuchtiger Benzintank, eine Zapfsäule und ein flacher Metallcontainer mit einer verglasten Eingangstür – die Poststation. Ein Versorgungslaster aus Reykjavík hält hier dreimal in der Woche und lässt die Sendungen da.

Tordur packt ein Dutzend Briefe in die blaue Postbox, einen Landwirtschaftskatalog, ein Päckchen mit Amazon-Logo und einen großen Sack Hundefutter.

Alle würden sich wünschen, dass die Westfjorde ein einsamer, mystischer Ort bleiben

Aus dem Hotel kommt ihm Jón entgegen, der Besitzer. Er hat breite Schultern, trägt Adidas-Shirt und Dreitagebart. Seine Hände sind rau. „Jón ist einer der komischen Typen, die tatsächlich hierhergezogen sind“, sagt Tordur mit matter Ironie in der Stimme. Jón hat die alte Schule renoviert und den Swimmingpool ausgebaut. Eigentlich sollte es nur ein Sommerjob werden, wie er sagt, „aber ich bin hier hängen geblieben.“

Vor sieben Jahren gab er seine Arbeit in Reykjavík auf und zog in die Westfjorde. Von Islands einziger Großstadt ins Nirgendwo. Bedrückt ihn das nicht manchmal? Jón zieht die Augenbrauen hoch. „Was genau?“ Die Berge? Die Einsamkeit? Jón zuckt mit den Schultern, schaut zu Tordur hinüber. „Die Leute denken, du bist allein. Aber du triffst hier vielleicht mehr Menschen als in Reykjavík.“

Natürlich ist Reykjavík mit rund 200.000 Einwohnern längst nicht so anonym wie die Metropolen dieser Welt. Dennoch verbindet sich für viele Isländer die Sinnsuche fast zwangsläufig mit der Stadtflucht. Zumindest in Gedanken. „Ich hatte die Nase voll davon, in Cafés zu sitzen und Latte macchiato zu trinken und koffeingetunte Pläne zu schmieden, die doch nie Realität wurden“, schreibt Schriftsteller Huldar Breidfjörd. Er hat inzwischen ein Sommerhaus in den Westfjorden.

Im Winter bleibt er lieber in Reykjavík. Ist vielleicht auch besser so. Vor ein paar Wochen hat Tordur ein Pärchen auf der Steingrímsfjardarheidi aufgelesen, das mit dem Wagen im Schnee stecken geblieben war. „Im Fiat über einen Gebirgspass“, sagt Tordur: „Du musst wach sein und weiter vorausdenken, wenn du auf dem Land lebst.“

Aber ist das nicht ein Paradox: Tourismus in einer Region, die von der Einsamkeit lebt? Den Einwand wischt Tordur beiseite. „Wir müssen kluge, nachhaltige Lösungen finden“, sagt er. Er selbst hat schon mal eine Pferdetour über den Gletscher geführt. Wandern, Kajaktouren, „kein Massentourismus“, sagt er. Alle würden sich wünschen, dass die Westfjorde ein einsamer, mystischer Ort bleiben.

Als er wieder auf die Straße abbiegt, deutet er auf einen kleinen Verschlag am Rand des Hotelriegels. Aus dem Dach ragt ein breiter Schornstein: der Generator für die Höfe des Fjords. Falls im Winter der Strom ausfällt. „Auf dem Pass stehen ja immer noch Oberleitungen, obwohl die regelmäßig unter dem Schnee zusammenklappen“, sagt Tordur. Mobiles Internet kann man in den Fjorden vergessen. Selbst das Mobilfunknetz ist in einigen Regionen so schwach, dass Anrufe nicht durchkommen und SMS die Empfänger mit mehreren Stunden Verspätung erreichen.

Seit der Finanzkrise wird die Talstraße nur noch an sechs Tagen in der Woche geräumt. Schon im Herbst ist sie an Samstagen oft geschlossen. Das spart nicht mal wirklich Geld, wie ein Sprecher des Wegedienstes freimütig einräumt – „wir müssen dann ja am nächsten Tag doppelt so viel Schnee wegschaffen. Aber Sie wissen schon, die Finanzkrise. Es hörte sich wohl gut an, um zu zeigen, wie straff Island spart.“ Und wenn es draußen zu stürmisch ist, bleibt die Straße auch dicht.

„Die lachen uns doch aus in Reykjavík“, sagt Tordur – und er meint damit nicht die Schriftsteller und Künstler, sondern die Politiker, die über Stromtrassen und Wegedienst entscheiden. Die, so empfinden es die Menschen hier, mit dem Finger auf die starrsinnigen Bauern in den Westfjorden zeigen. „Das ist der Grund, warum hier nichts vorangeht“, sagt Tordur. Niemand kümmere sich so recht um die Probleme in der Region. „Die Leute hören ‚Westfjorde‘ und denken an Landleben und schöne Natur.“ Aber nicht daran, dass die Müllabfuhr manchmal nur alle drei Wochen kommt.

„Die Landwirtschaft hat hier als Erwerbsmodell kaum eine Zukunft“

„280 Kilometer für eine Handvoll Briefe!“, poltert Tordur. Warum er das macht? Warum er fährt, auch wenn er den Jeep nehmen muss, der so viel Sprit verbraucht, dass er fast nichts mehr verdient? „Es bedeutet, dass man selbst an diesem Ort im Internet bestellen kann. Dass jemand nach den alten Farmern sieht und auch mal eine Besorgung erledigt“, sagt er energisch. „Ich mache das, weil ich an das Leben in den Westfjorden glaube. Aber wir sind schon fast vergessen.“

Dann ist es lange still im Jeep. Draußen ziehen die Fjorde vorbei. Der Himmel ein aufgewühltes Wolkenmeer. Eine weiße Kapelle mit rotem Dach. Tordur springt nur kurz raus, um Briefe abzuliefern. Den Landwirtschaftskatalog für den Bauern. Hundefutter für die alleinstehende Dame, die mit 83 Jahren noch ihren Hof bewirtschaftet.

Ein alter Mann mit zersaustem grauem Haar und einem buschigen Vollbart bittet ihn auf einen Kaffee herein. „Sigurjón“, sagt er zur Begrüßung und reicht die knorrige Hand. Sigurjón sei inzwischen ein bisschen vergesslich, sagt Tordur. Eine Frau hilft ihm im Haushalt und kümmert sich um die Tiere. „150 Schafe“, sagt Sigurjón und nickt langsam. Auf manche Fragen antwortet er nur mit einem Lächeln oder einem Augenzwinkern. Wie er mit der Einsamkeit umgeht? Lächeln. Ob ihn die Landschaft, die Berge manchmal bedrücken? Augenzwinkern. Ob er nicht denkt, dass er vielleicht in der Stadt besser aufgehoben wäre? Lächeln. Kopfschütteln.

Auf dem Rückweg brechen zarte Sonnenstrahlen durch die grauen Wolken. Tordur deutet nach oben: Ein Seeadler kreist über dem Wasser. Es ist nicht schwer, sich diesen Ort ohne Menschen vorzustellen.

„Ich dachte es macht mir nichts aus, dass die Menschen wegziehen. Aber das stimmt nicht“, sagt Tordur. Ob er selbst manchmal darüber nachdenkt wegzugehen? „Ja, irgendwann verlasse ich die Westfjorde“, sagt er. Und dann ist da wieder dieses schelmische Grinsen. „Aber nur in einer Holzkiste und mit den Füßen zuerst.“

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