: Unterm roten Rad
Chinas Aufstieg zur globalen Wirtschaftsmacht hat für Kinder und Jugendliche einen hohen Preis: Nur die Besten haben eine Chance auf einen guten Job. Über ein Bildungssystem, das hart selektiert und sozial ausgrenzt
VON GEORG BLUMEUND BABAK TAVASSOLIE
Gong Ren * ist eine gute Klavierspielerin, sie liebt die Musik, seit sie ein kleines Mädchen war. Doch vor einem Jahr musste die 15-jährige Pekinger Schülerin ihr Instrument aufgeben. Sie hat keine Zeit mehr, im nächsten Sommer steht die wichtige Aufnahmeprüfung für die Oberschule an. Sie steht nun täglich um viertel vor sechs auf und ist abends erst gegen halb sieben wieder von der Schule zurück. Zu Hause beginnt das Lernen von Neuem, manchmal bis nach Mitternacht. Ein paar Mal die Woche kommt der teure Privatlehrer für Mathematik, leider ohne Erfolg. Gong Ren ist musikalisch, nicht mathematisch begabt. „Unter diesem Schuldruck müssen Kinder ihre Talente leider oft aufgeben. Die Schule trichtert ihnen nur Wissen ein. Es bleibt keine Zeit zum Entwickeln individueller Interessen“, klagt Yao Ling *, Frau eines Universitätsprofessors und Mutter von Gong Ren und ihrer 13-jährigen Schwester. Auch die jüngere Tochter musste kürzlich ihr Instrument aufgeben.
Ganz normaler Stress
Eintönigkeit und Stress im Leben der beiden Schwestern sind im chinesischen Schüleralltag ganz normal. Und statt darüber zu klagen, könnte ihre Mutter auch froh sein, dass die Töchter bislang ohne Gesundheitsprobleme durchhalten. Eine neue Studie des Staatlichen Zentrums für Jugendforschung hat ergeben, dass nur 56,3 Prozent aller chinesischen Schüler an Grund- und Mittelschulen genügend Schlaf bekommen. Andere Institute berichten von 30 Millionen Jugendlichen unter 17 Jahren, die an psychischen Problemen leiden, das Zentrum für Geistige Gesundheit in Peking geht gar von 50 Millionen solcher Fälle aus. Viele Jugendliche kommen mit dem Druck nicht aus, leiden unter Depressionen und Einsamkeit. Auch unter den Älteren sieht es kaum besser aus. An Pekings Universitäten leiden heute gut 24 Prozent der Studenten unter Depressionen. Schon steigt deren Selbstmordrate, auch wenn sie noch unter dem westlichen Schnitt liegt. Regelmäßig wühlen Meldungen von Suiziden an Chinas Eliteschmieden die Öffentlichkeit auf. Als erste Fakultät reagierte die Peking-Universität und beschäftigt nun fünf Psychologen und Psychiater, die sich um die Studenten kümmern.
Die 21-jährige Journalistikstudentin Zhao Ran von der Pekinger Volksuniversität glaubt dennoch, die schlimmste Zeit bereits hinter sich zu haben. „Im letzten Schuljahr vor der Zulassungsprüfung für die Universität hatten wir jeden Tag Prüfungen. Tagein, tagaus gab es nur eins: lernen, lernen, lernen“, erzählt Zhao. Sie trägt einen pinkfarbenen Pullover über pinkfarbenen Jeans und spielt ununterbrochen mit ihrem Handy. Wie hat sie ihre Schulzeit ausgehalten? „Ich hatte doch keine Wahl. Wer kein gutes Ergebnis bekommt, der kommt auch auf keine gute Universität. Die Chancen auf einen guten Job sind dann sehr schlecht“, meint Zhao.
Die Gründe für die psychischen Probleme von Schülern und Studenten liegen meist in einem unterentwickelten Sozialverhalten. „Stellen Sie sich vor, Sie haben fast zehn Jahre lang nur ihre Eltern, Lehrer und Klassenkameraden gesehen, und das nie draußen, sondern immer im Klassenraum oder zu Hause“, klagt Zhao leise. „Wie wollen Sie nach einer solchen Jugend wissen, wie man mit Menschen redet?“
Um der zwischenmenschlichen Hilflosigkeit der Jugend entgegenzuwirken, fordert die Psychoanalytikerin Yang Yunping mehr Sensibilität von Eltern und Pädagogen. „Sie müssen sich der Probleme früher bewusst werden“, rät Yang, Leiterin der Psychologischen Abteilung der Pekinger Anding-Klinik und Professorin der Capitol Medical University. Oft werde der Ruf nach Kinder- und Jugendpsychologen laut, von denen es in China jedoch viel zu wenige gebe, meint Yang. Deshalb sei es viel wichtiger, sich auf die Erwachsenen zu konzentrieren. Eltern, Lehrer und auch Politiker müssten lernen, dass übertriebener Druck Kindern schade.
Finanzielles Risiko
Leicht gesagt, schwer getan. Chinesische Eltern sind bereit, ihr letztes Vermögen für die Ausbildung ihrer Kinder zu riskieren. Das aber belastet den Nachwuchs umso mehr. Nach einer Umfrage des Lingdian-Instituts geben chinesische Familien im Schnitt ein Drittel ihres Einkommens für das Fortkommen ihres Nachwuchses aus. Das Weißbuch „Wirtschaft und Soziales 2006“ des Instituts für Gesellschaftsforschung definiert die Schulkosten als „zentrales Problem der chinesischen Bürger“. 40 bis 50 Prozent aller Familien auf dem Land lebten nach dem Motto: „Die Familie ist arm, weil die Kinder lernen müssen.“ Unter Chinas 800 Millionen Landbewohnern ist es zum Schulanfang normal, Familieneigentum wie Möbel und Fernseher zu verkaufen, um die hohen Schulgebühren der Kinder aufzubringen. Denn Schulgebühren gelten als Zukunftsinvestition. Entsprechend fordern die Eltern Ergebnisse. Sie erwarten gute Noten für gute Schulen und später gute Jobs, von deren Lohn auch sie im Alter leben wollen. Eine schwere Verantwortung für die Kinder. Hinzu kommt der moralische Druck in einer Kultur, die Bildung als höchstes Gut preist. So sieht die gut verdienende Professorenfamilie der 15-jährigen Gong Ren in ihr zwar keine Altersversicherung, wie sie die Bauern auf dem Land von ihren Kindern erwarten. Aber ihre Mutter Yao Ling erwartet von ihr, immer fleißig zu sein. „Schon Konfuzius sagte, dass es das Edelste ist, gelehrt zu sein“, mahnt Yao ihre Tochter.
Chinas Ein-Kind-Politik lädt zusätzliche Lasten auf die Schultern der Kinder. Da viele Eltern keinen Anspruch auf Rente und Sozialversicherung haben, muss das Einzelkind das Geld für deren Altersversorgung allein aufbringen. Zudem möchten die Eltern aus ihrem einen Kind oft ein „Superkind“ züchten. So schickt eine Mutter ihre Elfjährige nicht nur zu Mathematik- und Englischkursen nach der Schule, sondern auch zum Skateboard- und Gesangsunterricht. „Sie hat ihre Tochter einfach für alle Kurse angemeldet, die von der Schule angeboten wurden. Sie sagt, dass ihr Kind gut zurechtkommt, aber die Kleine wird ohnehin nicht gefragt“, beobachtet eine andere Mutter kopfschüttelnd. Zwischen Chinas Eltern wiederum herrsche zusätzlicher Wettbewerb, berichtet die Psychologin Yang. Sie fragten sich: Welches Kind sei das schlauste, habe die besten Ergebnisse, gehe auf die beste Schule? Nur wenige hätten dabei den Mut, das Konkurrenzdenken zu Gunsten ihres Nachwuchses zu ignorieren.
In der Volksrepublik herrscht eine deutliche Klassenteilung in der Bildung: Während viele arme Eltern ihre Kinder in Schulen entsenden, die als Lehrmaterial oft nur wenige Bücher besitzen, schickt die urbane Bourgeoisie ihren Nachwuchs in mondäne Eliteschulen. Längst hat sich unter Pädagogen herumgesprochen, dass mit chinesischen Eltern viel Geld zu verdienen ist. So wachsen teure Privatschulen wie Pilze aus dem Boden, ausgestattet mit Hightech-Labors, modernen Sportanlagen und Nobelmenüs in der Kantine. Auch die Lehrer sind weit besser ausgebildet als in staatlichen Schulen, haben oft im Ausland studiert. Viele reiche Eltern suchen daher in den neuen Lehranstalten einen Ausweg aus dem Alltagsstress an den staatlichen Schulen. Doch finden sie wirklich ein Alternative? „Ach was“, winkt Liu Wang * ab, eine Pekinger Übersetzerin, die ihren Sohn in den letzten Jahren auf ein privates Fremdspracheninternat im schicken Universitätsbezirk Haidian gehen ließ. Die Schule kostete 27.000 Yuan (umgerechnet 2.700 Euro) im Jahr, mehr als die meisten Städter im Durchschnitt pro Jahr verdienen. Doch heute ist Liu enttäuscht. „Privatschulen in China sind anders, als ich sie mir vorgestellt habe. Wir haben in China ein Sprichwort: ‚Gleicher Wein in teurer Flasche‘“, sagt Liu und lässt ihr Kind inzwischen wieder auf eine öffentliche Schule gehen.
Mehr Psychodramen
Auch das ist typisch. Trotz aller Kritik und täglichen Mühsal, trotz der immer häufigeren Psychodramen fordern die wenigsten chinesischen Eltern grundsätzliche Veränderungen im Schulsystem. Wie die Politiker halten sie in der Regel die zentral gesteuerten Zulassungsprüfungen für Oberschulen und Universitäten für fair und gerecht. Da werde überall gleiches Wissen abgefragt, so könne sich niemand beschweren, versichern die meisten. Die Kinder aber werden damit nicht entlastet.
Die Regierung will nun vor allem den armen Schülern helfen. Premierminister Wen Jiabao kündigte an, dass die neun Schulpflichtjahre auf dem Land ab 2010 für alle Familien kostenfrei sein sollen. Insgesamt soll der Bildungsetat von derzeit 3,2 Prozent des Staatshaushalts auf 4,5 Prozent im Jahr 2010 erhöht werden. Und zumindest in Peking sollen ab dem laufenden Schuljahr alle Schulen auch einen Psychologen beschäftigen. Es ist ein erstes, schwaches Zeichen, dass die wachsenden psychischen Nöte der Schüler erkannt werden.
* Namen von der Redaktion geändert
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