: Ein Hauch von Weimar
Mit seinen Interventionen zeigt Horst Köhler, was er unter „aktiver Präsidentschaft“ versteht. Damit provoziert er noch keine Verfassungskrise. Aber der Rubikon ist erreicht
Ein politisch impotenter Präsident ist aus französischer Sicht dazu verurteilt, „Chrysanthemen einzuweihen“, also rein symbolische Akte zu vollziehen. So hatte sich Staatspräsident Charles de Gaulle über seine Vorgänger aus der Vierten Republik lustig gemacht, und François Mitterrand, der die republikanische Monarchie fortsetzte, musste feststellen, dass ihm wirklich nicht viel übrig blieb als Blumenbukette, als ihm die Wähler 1986 einen rechtskonservativen Premier an die Seite stellten. Auch George W. Bush, mit weit größerer Machtfülle ausgestattet, erlebt gerade, wie ein Kongress mit abweichender Mehrheit eine imperial gedachte Präsidentschaft zähmt.
Das Weimar-Syndrom hat die Gründer der Bundesrepublik davon abgehalten, dem Staatsoberhaupt jene Handlungs- und Blockademöglichkeiten zu verleihen, die die Weimarer Verfassung dem Reichspräsidenten gegenüber Regierung und Parlament eingeräumt hatte. Alle Versuche des Republikgründers Konrad Adenauer, sich direkt oder indirekt mit präsidialer Machtfülle auszustatten, sind gescheitert. Mag die von Adenauer bis Schröder gepflegte Übung „Auf den Kanzler kommt es an“ auch gelegentlich einen Hauch von Präsidialdemokratie vermitteln – dem Bundespräsidenten blieb höchstens eine rhetorische Macht: „Worte als Taten“.
Einen Hauch von Weimar spürt man nun, wenn nach der Nichtunterzeichnung zweier Gesetze durch den Bundespräsidenten schon vom „Gegenkanzler in Bellevue“ (Focus) die Rede ist und Horst Köhler zum Sprachrohr von Volkes Stimme gegen eine unfähige politische Klasse in Regierung und Parlament stilisiert wird. Die meisten Experten fordern von Köhler political restraint. Doch laut Umfragen hat der Bundespräsident drei Viertel der Deutschen auf seiner Seite.
Deren Bekundungen pflegen zwar von wenig Sachkenntnis getrübt zu sein – die meisten denken, Köhler habe ein Gesetz der großen Koalition zu Fall gebracht, weil es ihm inhaltlich nicht gepasst hat. Aber die Ohrfeige für Merkel und Kauder, Müntefering und Struck sitzt – und man darf sich verwundert fragen, ob in der Exekutive tatsächlich eine neue Balance gesucht wird. Köhler ist nicht der erste Bundespräsident, der Gesetze „anhält“ (das geschah vor ihm bereits sechsmal). Aber in Fällen wie dem im Prinzip unstrittigen Gesetz zur besseren Verbraucherinformation (dessen Makel allein die nach der jüngsten Föderalismusreform unzulässige Übertragung von Aufgaben an die Kommunen durch den Bund ist) hätten die meisten Bellevue-Bewohner nur ihre Bedenken öffentlich gemacht und auf eine spätere Korrektur in Karlsruhe abgehoben. Der Staatsnotar lässt dem wirklichen Verfassungshüter den Nachtritt.
Köhler demonstriert, was er unter einer „aktiven Präsidentschaft“ versteht. Die Ambivalenz liegt darin, dass er eine nützliche Instanz gegen schlampige Gesetzgebung sein kann, die den „Gang nach Karlsruhe“ immer schon als Routine einkalkuliert und damit das Bundesverfassungsgericht vom Hüter der Verfassung zum Supergesetzgeber macht. Zugleich aber verstärkt er Wünsche nach dem starken Mann, die sich deutlich zu artikulieren beginnen.
Bei aller ihm eigenen Notstandsrhetorik ist Köhler kein Hindenburg, solange Bonner Verfassung und Berliner Republik ihm das verwehren. Allerdings ist die Frage, ob der Bundespräsident mehr besitzt als ein formelles Prüfungsrecht, durchaus umstritten. Anlass war, wer hätte das gedacht, Heinrich Lübke: Der zeichnete 1960 das Gesetz über den Betriebs- und Belegschaftshandel nicht, weil er darin die im Artikel 12 GG garantierte Freiheit der Berufsausübung beeinträchtigt sah. Aber schuld ist der Bundestag, der ihn damals gewähren ließ und so (aus schlechtem Gewissen über ein missratenes Gesetz) die materielle Prüfung faktisch akzeptierte. Historisch (Weimar), systematisch (Grundgesetz) und teleologisch (Autorität des Hohen Hauses und des Bundesverfassungsgerichts) kann der Bundespräsident bestenfalls Hüter des Verfahrens sein. Aber nachlässige Parlamentarier zwingen ihn dazu, die materielle Prüfung in seinem Haus vornehmen zu lassen, wenn er nicht sehenden Auges gegen das Grundgesetz verstoßen will.
In vielen westlichen und mehr noch in den neuen Demokratien Ostmitteleuropas und Lateinamerikas setzen sich präsidiale Züge durch: Erstens ist – wie man am aktuellen Fall Verbraucherinformationsgesetz gut illustrieren kann – Gesetzgebung durch die Komplexität der Materie und die nationale wie übernationale Politikverflechtung zunehmend erschwert, also per se Arbeit auf Widerruf. Nicht nur Gammelfleisch legt eine Stärkung der Verbraucher nahe, aber wie lange dauert das und wie schwach fiel sie jetzt aus! Zweitens führen solche Qualitätsmängel von Regierungsergebnissen leider nicht dazu, dass sich unzufriedene Bürger stärker in den politischen Prozess einschalten – sondern dass sie ihren Ärger an Volkstribune delegieren, die sich über die politische Klasse erheben sollen.
Der populärste Bundespräsident seit 1949 in der Erinnerung der West- und Ostdeutschen war Richard von Weizsäcker, der die Schelte der politischen Klasse schon sehr weit getrieben hatte. In seine Fußstapfen tritt nun Horst Köhler, der sich – was er sich wirklich schenken sollte – sogar in Programmdebatten der Union einmischt. Solche tagespolitischen Interventionen signalisieren, dass Köhler schon am Zustandekommen von Gesetzen mitwirken will. Damit ist der Rubikon erreicht. Marschiert er weiter, hat das Grundgesetz mit Artikel 61 die bisher nie für möglich gehaltene Anklage des Bundespräsidenten vor dem Bundesverfassungsgericht in petto.
Die weiterschwelende Präsidialaffäre ist (noch) kein Verfassungskonflikt, aber ein deutliches Krisensymptom der Berliner Republik. Die Bundesregierung und beide Fraktionen der Volksparteien sind blamiert, weil ihnen die Stiftung Bellevue das Etikett „mangelhaft!“ angeheftet hat; die Oppositionsparteien verzwergen sich weiter, indem sie nun Köhler zu Hilfe rufen, weitere Gesetzentwürfe (wie das eben beschlossene Gesetz zur Kostenübernahme der Unterbringung für hilfsbedürftige Langzeitarbeitslose) anzuhalten, ach was: in den Papierkorb zu befördern. Aber auch der Bundespräsident ramponiert sein Amt, wenn es zur Speerspitze eines populistischen Ressentiments degradiert und eine Rückkehr zur Regierbarkeit suggeriert, die er selbst untergräbt.
Oder hat Köhler, der nach diesem Jahr 2006 ohnehin kaum noch Chancen auf eine zweite Amtsperiode hat, weiterreichende politische Ambitionen, nämlich Angela Merkel als Chef einer liberal-konservativen Koalition zu beerben? Ausgeschlossen ist das nicht und nicht einmal verboten. Aber ein Bellevue-Watchblog sollte von nun an genauestens unter die Lupe nehmen, ob Köhler das Bundespräsidialamt etwa zur Wahlkampfzentrale umfunktioniert. Die Kanzlerin wird sich jetzt schon die Augen reiben, von wo der bisher schärfste Gegenwind kommt.
CLAUS LEGGEWIE
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