: Lautlos durch verschneite Berge
UNTERENGADIN Auf Schneeschuhen durch verschneite Wälder zum Crap Puter, ohne das Wild zu verschrecken
■ Anreise: von Zürich mit der Rhätischen Bahn weiter nach Scuol. Das Unterengadin weist ein deutlich größeres Gefälle auf (von 1.610 bis 1019 m). Es ist enger und wilder als das Oberengadin. Der Inn wühlt sich hier zwischen engen Felswänden durch. Die wildeste seiner Schluchten ist die von Finstermünz, wo er das Schweizer Gebiet verlässt.
■ Unterkunft: in Vulpera das Hotel Villa Post, gehobene Atmosphäre, DZ ab 300 CHF; Tel. (00 41) 8 18 64 11 12, www.villa-post.ch Im Unterengadiner Hauptort Scuol gibt es zahlreiche Unterkünfte jeder Kategorie.
■ Tourismusinformation: Tarasp-Vulpera Turissem, Tel. (00 41) 8 18 61 20 51, Scuol Information: Tel. (00 41) 8 18 61 22 22; www.scuol.ch
■ Schneeschuhtour: Outdoor Engadin, Tel. (00 41) 8 18 60 01 06, info@outdoor-engadin.ch
■ Infos: www.myswitzerland.com
VON HELMUT LUTHER
Postkartenhimmel über dem Unterengadin. Eben erreichen die ersten Sonnenstrahlen die im Gegenlicht glitzernden Dächer von Tarasp-Fontana. In der Nacht hat es kräftig geschneit, jetzt knirscht der Neuschnee unter den Sohlen, die Luft ist trocken und kalt. Stoisch stapfen die Schneeschuhwanderer im Entenmarsch hinter ihrem Guide her, den Blick auf die ganz in Weiß gehüllte Berglandschaft gerichtet. Ihr Ziel ist der Crap Puter. Gemessen an den Dreitausenderriesen ringsum ist der Crap Puter mit seinen knapp 2.400 Metern nur ein Winzling, obendrein ist der Tarasper Hausberg technisch anspruchslos. Aber als Belohnung verheißt Lukas Barth ein grandioses Panorama und vor allem eine tiefe Genugtuung über die erbrachte Leistung.
Lukas Barth, ein athletischer Typ Mitte dreißig, ist eigentlich studierter Biologe – und er war lange Kajakprofi. Weil Lukas Barth sich am liebsten in der Natur aufhält, arbeitet er seit einigen Jahren als Outdoorunternehmer im Unteren Engadin. Dort organisiert er Kajakabfahrten durch die spektakuläre Innschlucht, im Sommer geführte Mountainbiketouren, im Winter Schneeschuhwanderungen. Heute soll es in das stille Plavnatal gehen.
„Das Tolle an dieser Sportart ist ja, dass dabei auch Nichtskifahrer das traumhafte winterliche Hochgebirge erleben können.“ Außerdem verursache man keinen unnötigen Stress für das Wild. Denn im Gegensatz zu den Tourenskiläufern steige man beim Schneeschuhwandern vom Gipfel genauso gemächlich wieder herunter, wie man zuvor hinaufgestiegen ist.
Die Streusiedlung Tarasp-Fontana liegt hineingetupft auf einem Hochplateau mit Wald und Wiesen zwischen 1.250 und 1.450 Metern, im Unterengadin der einzige Ort auf der rechten Seite des Inns. Überragt wird der idyllische Weiler von der Burg Tarasp. Zunächst geht es durch einen dichten Fichtenwald. Manchmal, wenn die Schneeschuhläufer unter den Ästen durchmüssen und sich nicht rechtzeitig wegducken können, ergießt sich die kalte Pracht über ihnen. Dann ertönen laute Ahs und Ohs, ein wenig entrüstet, aber auch begeistert über die Winterlandschaft ringsum. Die meiste Zeit herrscht Stille
Die Kulisse wandelt sich. Hinter den dichten Wäldern öffnet sich das Plavnatal zu einer weiten, mit windschiefen Hütten übersäten Almlandschaft. In den aus rohen Fichtenstämmen gezimmerten Häuschen haben die Bauern früher das Heu gelagert. Im Winter zogen sie es zu mächtigen Ballen verschnürt auf ihren Schlitten ins Tal. Heute sind die meisten Bergwiesen durch Forststraßen erschlossen, viele werden nur mehr als Weiden genutzt. Der Tourismus wurde zur wichtigen Einkommensquelle der Menschen vor Ort. Schon im 19. Jahrhundert war das an mineralhaltigen Quellen reiche Tal von Touristen entdeckt worden. Damals reisten Adelige und Bürger aus ganz Europa ins Unterengadin, um durch Trinkkuren ihre Zipperlein zu heilen.
Heute reisen kaum mehr übergewichtige, gehfaule Kurgäste ins Unterengadin, heute sind es naturbegeisterte Freizeitsportler wie Mountainbiker oder eben Schneeschuhwanderer. Mittlerweile sind etwa 300 von 800 Höhenmetern zurückgelegt, kurz vor der alten Plavnasäge geht es auf eine Weggabelung zu. Weiter den Bachlauf entlang, erzählt Lukas Barth, führe ein früher viel benützter Übergang zum Ofenpass. Von dort gehe es auf alten Saumpfaden nach Italien. Und die habe schon Karl der Große während seinen Eroberungszügen benützt.
Der Wanderführer zweigt nach rechts ab. In weiten Schleifen schlängelt sich der Pfad zur Alp Laisch hoch. Obwohl die Sonne hoch steht und in das enge V-Tal scheint, herrschen hier sibirische Temperaturen.
Der Guide spurt voraus, das Steigen im Tiefschnee ist mühsam, auf seiner Fleecejacke haben sich Eiskristalle gebildet. Vor einigen Jahren, erzählt Barth, habe es hier Pläne gegeben, die Nutzungsrechte am Plavnabach an die Engadiner Kraftwerke AG zu verkaufen. Die Tarasper Bürger hätten jedoch dieser Versuchung tapfer standgehalten. Das Bestreben, das Plavnatal dem angrenzenden Schweizer Nationalpark einzugliedern, wäre hingegen am Widerstand der Tarasper Hoteliers und Restaurantbesitzer gescheitert: Die passionierten Jäger wollten es sich nicht nehmen lassen, ihren Gästen eine Kostprobe vom selbst gejagten Wild aufzutischen.
Am Rand einer buckligen Schneefläche duckt sich die Alp Laisch. Nach einer kurzen Rast geht es weiter über schroffe Hänge, wo nur mehr verwachsene Urlärchen und jetzt schneebedeckte Alpenrosen überleben können. Die Wegweiser sind unter der weißen Schneedecke verborgen. Spitzkehre für Spitzkehre malt die Tourengruppe ihre Spur in den steilen Berg. Plötzlich geht es nicht mehr weiter. Die Schneeschuhwanderer haben den Gipfel des Crap Puters erreicht.
Auf der gegenüberliegenden Talseite recken sich die Gipfel des Unterengadins wie übereinandergelegte Scherenschnitte in den blauen Himmel empor. Zum Greifen nahe erscheinen die Ötztaler Alpen, rechts Piz Sesvenna und der majestätische Piz Chiavalatsch. Weiter hinten im Osten, wo die Schweiz wie ein vergessener Wurstzipfel in das benachbarte Südtirol hineinreicht, zeichnen sich die eisgepanzerten Beinaheviertausender der Ortlergruppe ab. Tief unten im Tal, auf den Terrassen der Südhänge, räkeln sich die Haufendörfer Sent, Ftan und Ramosch im letzten Sonnenlicht – das Unterengadin breitet mit einer großmütigen Geste seine Schätze aus.
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