: „Menschen sind dafür nicht vorgesehen“
Regelmäßige Nachtarbeit widerspreche dem menschlichen Grundrhythmus, sagt der Zeitforscher Martin Held. Er glaubt nicht, dass sich Einkaufen rund um die Uhr durchsetzt. Nur abends geöffnete Geschäfte hätten viele Vorteile
taz: Herr Held, haben Sie schon einmal morgens um drei Uhr ein Pfund Hackfleisch gekauft?
Martin Held: Nein, noch nie. Vor 30 Jahren war ich einmal in den USA nachts in einem Supermarkt. Da war eine ganz seltsame Stimmung. Die Meinung, dass dieses nächtliche Einkaufen toll sei, kann ich nicht nachvollziehen.
Könnte die Liberalisierung der Öffnungszeiten nicht doch auch Vorteile für unser Leben haben?
Allein der Begriff „Liberalisierung“ ist interessant. Er suggeriert, dass wir uns dadurch befreien. Das ist trügerisch.
Warum?
Wir befreien uns nicht, sondern die natürlichen Rhythmen werden einfach ignoriert – obwohl die Wissenschaft heutzutage so viel wie noch nie zuvor über die Lebensrhythmen der Menschen weiß. Die Liberalisierung geht also in die falsche Richtung. Die Biologen wissen: Jeder Mensch hat einen unterschiedlichen Rhythmus. Aber wir Menschen sind nicht dafür vorgesehen, regelmäßig nachts zu arbeiten.
Warum haben dann viele Geschäfte in den USA schon seit Jahrzehnten rund um die Uhr geöffnet? Ticken die Amerikaner biologisch anders?
Natürlich nicht. In den USA gibt es, wie bei uns, bestimmte Zeiten, in denen viel los ist, die morgendliche und abendliche Rushhour etwa. Auch die Grundrhythmik mit dem Sonntag als Feiertag, die in einigen Regionen der USA noch stärker ausgeprägt ist als bei uns, ist der unsrigen sehr ähnlich.
Mit welchen Nachteilen müssen wir rechnen, wenn die Geschäfte länger offen sind?
Man muss unterscheiden zwischen den Leuten, die einkaufen gehen, und denen, die in den Geschäften arbeiten. Nachtschichten sollten nur in den gesellschaftlich notwendigen Fällen, etwa bei Feuerwehrleuten oder in der Krankenpflege, gemacht werden.
Aber ist diese Liberalisierung nicht ein zwingender Schritt in der Entwicklung, die sich zwischen ständiger Erreichbarkeit via Handy und ständiger Verfügbarkeit von Informationen via Internet abspielt?
Im Gegenteil. Wir Menschen tun uns schwer, mit den neuen Möglichkeiten angemessen umzugehen. Ihr Beispiel mit dem Internet ist gut: Jemand, der dauernd online ist, ist immer im Einsatz, kommt nicht zur Ruhe und schadet sich und seiner Umgebung. Wohingegen jemand, der das nicht tut, die Vorteile der Technik für sich nutzen kann, ohne davon gestresst zu werden.
Glauben Sie, dass die Freigabe der Öffnungszeiten das Potenzial hat, unser Leben stark zu beeinflussen?
Wenn gewisse gesellschaftliche Kräfte das mit aller Kraft durchsetzen wollen, dann ja. Ich vermute aber, dass das dann nur kurz halten wird. Zu behaupten, es würde uns befreien, nächtlich einkaufen zu können, ist Unsinn. Einkaufen am Abend hat indes viele Vorteile, besonders für die arbeitende Bevölkerung, und es ist mit unseren biologischen Rhythmen vereinbar.
Was ist mit der Freigabe des Sonntag?
Wenn man den „abschafft“, gibt es keinen Tag mehr, an dem man sich ausruhen kann. Dahinter steckt die Vorstellung, dass alle Tage gleich sind, gleich wertlos, gleich wertvoll. Diese Gleichgültigkeit gegenüber der Qualität der Zeit ist das eigentliche Problem. INTERVIEW: DOMINIK SCHOTTNER
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