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Jeder studiert für sich allein

STUDENTINNENLEBEN Bücher werden versteckt, falsche Tipps werden gegeben: Viele Studierende finden, dass der Gemeinschaftssinn unter dem gestiegenen Leistungsdruck leidet. Die ersten Uni-Städte schalten Sorgentelefone

„Wenn ich es nicht schaffe, bin ich selbst schuld – das ist der Gedanke“

BERND NIXDORFF, PSYCHOLOGISCHER BERATER AN DER UNI HAMBURG

VON HENNING RASCHE

BERLIN taz | Im anonymen Internet bricht die Verzweiflung aus ihm heraus. „Erst war die Vorfreude da. Dann abends, allein, in fremder Umgebung, war es doch irgendwie mies. Kannte die Nachbarn nicht, keine Freunde, Bekannte; keine Familie, die mal schnell rüberkommen kann“, schreibt jemand im Portal studis-online.de.

Studienzeit. Die galt doch immer als die schönste Zeit des Lebens. Als Heiratsmarkt, als riesige Kontaktbörse, als Hort der feierwütigen Gleichgesinnten. Doch heute, 15 Jahre nachdem die Hochschulen damit begannen, Studiengänge auf Bachelor und Master umzustellen, Credit Points zu vergeben und Leistungen im Wochentakt abzuprüfen, klingen vornehmlich Klagen über die sogenannte Bologna-Reform von den Campus: über den Stress im Bachelor oder Master, über unzumutbaren Workload und hohen Druck.

Aus dem aktuellen Studierendensurvey, einer Befragung des Bundesbildungsministeriums und der Uni Konstanz, geht hervor, dass fast jeder Vierte an der Uni sich damit schwertut, soziale Kontakte zu knüpfen.

Ist es wirklich so schlimm? Ein Vorortbesuch auf dem Campus der Technischen Universität Berlin. An den Tischen der Mensa sitzen einzelne Frauen und Männer, deren Begleitung alternativ aus Buch, Zeitung oder Smartphone besteht. Jeder isst für sich, sauber abgeschirmt mit eiserner Miene und gelegentlich gar mit Kopfhörern. Möchte hier vielleicht jemand reden? Nein. Keine Zeit, keine Lust, kein Bedarf.

Wo sind die StudentInnen geblieben, die nachmittags verkatert aufwachen und dann noch schnell neues Bier für die nächste Party kaufen? Die gar nicht mehr wissen, wo sie bei all der Freizeit noch ein wenig Uni unterbringen sollen?

Freunde werden zu Konkurrenten

Das geräumige, schmuck eingerichtete Büro des psychologischen Psychotherapeuten Kai Wieters im Komplex des Studentenwerks Berlin auf dem Campus der TU ist ein fabelhafter Ort, derlei Dinge zu besprechen. Wieters berät mit einem großen Team StudentInnen, die Probleme haben. „Ja, ich glaube unbedingt, dass sich der Konkurrenzdruck durch die Bachelor/Master-Einführung verschärft hat“, sagt Wieters. Das Vergleichen gehörte zwar immer schon zu der Lebensphase Studium dazu, aber die Form habe sich verschärft. Nur für ein Drittel der Berliner PsychologiestudentInnen gibt es Masterplätze. „Da muss ich meinen Freund ja als Feind betrachten“, sagt Wieters.

Daniel* ist 24 und studiert Wirtschaft in Saarbrücken. „Es fehlt einfach der Teamgeist“, beklagt er. Bei einer Hausarbeit brauchte er dringend ein Buch aus der Bibliothek – einer seiner Kommilitonen hatte es aber für den eigenen Bedarf versteckt.

Vor Klausuren gäben MitstudentInnen nur ungern Hinweise oder Tipps, berichtet Daniel, alte Klausuren behielten sie für sich. Dafür habe er kein Verständnis: „Der Erfolg des einen ist doch nicht das Leid des anderen.“ Freilich spiele auch die unzureichende Ausstattung der Uni-Bibliotheken eine Rolle, die von manchen Werken nur ein Exemplar haben. „Aber viele wollen einfach nicht teilen“, ärgert sich der Saarbrücker Student.

Insgesamt „geht alles stramm auf Verwertbarkeit zu“, findet Bernd Nixdorff, der StudentInnen an der Uni Hamburg psychologisch berät und sich davor hütet, alles schwarzzumalen. In seine Beratung kämen schließlich nur die, die unzufrieden seien, die ein Problem hätten. Aber auch Nixdorff beobachtet: „Die Konkurrenz nimmt zu. Wenn ich es nicht schaffe, bin ich selbst schuld – das ist der Gedanke.“ Das Leben an den Unis individualisiere sich: Einzelkämpfer, die einander das studentische Leben schwer machten, seien nicht mehr nur eine Ausnahme.

Christian* hat in Düsseldorf Jura studiert und ebenfalls schlechte Erfahrungen gemacht. „Da werden falsche Hinweise gegeben, sich gegenseitig über den Fortschritt beim Schreiben getäuscht, um die anderen zu verunsichern oder auf falsche Fährten zu locken“, erzählt er von der Anfertigung einer Hausarbeit. Bücher verstecken sei längst Standard. Und bei mündlichen Prüfungen verschanzten sich viele hinter einer betont coolen Fassade. „Nach deren Vorstellung ist Unsicherheit eine Form von Schwäche, die man seinem Gegner nicht zeigen will.“

„Die Studienreform bildet genau das ab: effektiv sein, schnell sein. Es gibt keine Zeit mehr, irgendetwas infrage zu stellen“, meint Nixdorff. Erst kürzlich war ein Student in seiner Beratung, der im ganzen Bachelorstudium nicht einmal Urlaub gemacht habe.

Krampfadern vom Sitzen in der Bibliothek

Die „überhöhte, kontraproduktive Leistungsmotivation“ treibt auch den Augsburger Psychologen Thomas Blum um. Er hat an der Universität Augsburg bereits über 1.700 NachwuchsakademikerInnen geholfen. „StudentInnen, die Krampfadern vom Sitzen in der Uni bekommen oder nach Tricks fragen, wie sie ihren Schlafbedarf reduzieren, sind Normalität“, sagt Blum.

Konkurrenzverhalten finde sich besonders häufig in den Fächern Jura und Wirtschaft wieder. „Bücher verstecken, klauen und falsche Informationen streuen gehört dazu“, berichtet Blum. Die Konkurrenz in diesen Fächern werde auch von Dozenten angeheizt. „Es ist ein Klassiker, dass in der Jura-Erstsemester-Einführung die StudentInnen aufgefordert werden, sich ihren rechten und linken Nachbarn anzuschauen, und dann die Information erhalten, dass nur einer von ihnen das Ziel erreichen wird“, sagt Blum. Da wird der Sitznachbar, der potenzielle Freund und Kommilitone zum Gegner, gar zum Feind stilisiert. Für Leistungsdruck bedarf es also nicht einmal zwingend einer Masterquote.

Zurück im Berliner Büro von Kai Wieters. Der angebotene Kaffee ist längst kalt, so viel hat er zu erzählen. Wieters lenkt den Blick auf den finanziellen Teil des Problems. „Seit den 90ern haben sich die Preise verdoppelt.“ Nicht jedoch die Löhne.

Bafög-Empfänger stehen doppelt unter Druck. Menschen wie Frieda*, die in Bochum studiert und auf Bafög angewiesen ist, leiden darunter. Regelmäßig will das Bafög-Amt Nachweise, ob sie schon genug Credit Points gesammelt hat. „Die Bürokratie nimmt einen großen Teil des Studiums ein“, sagt Frieda. Bafög erhält sie nur in der Regelstudienzeit. Das bedeutet für sie: Aussetzer oder Fehler darf sie sich nicht erlauben. „Sonst geht’s nicht mehr weiter, weil das Geld fehlt.“

Die ersten Universitätsstandorte reagieren auf die Nöte der Studierenden. Schon in 16 Städten gibt es die „Nightline“, ein Zuhörertelefon von und für StudentInnen. Nachts können sie dort anrufen und ihrem Kummer Luft machen.

Einsamkeit ist ein Tabuthema

Anonymität ist das oberste Gebot in der „Nightline“, weshalb David in Wirklichkeit anders heißt. „Stress in der Uni, Beziehung, Liebeskummer, Unsicherheit – das sind so die Themen, weshalb die Leute anrufen“, erzählt David, der Mitarbeiter der „Nightline“ in Dresden ist.

Hinter den Anrufen stecke mehr, meint der Berliner Berater Wieters: „Es fehlt oft ein Mensch, mit dem man die schwierigen Themen teilen kann.“

Auch die Soziologin Caroline Bohn vermutet: „Dahinter steht sehr oft Einsamkeit.“ Bohn hat viel zu diesem Thema geforscht. „Viele sind mit dem Bachelor-Master-System überfordert.“ Diese drohen dann zu vereinsamen, unterzugehen in der Masse. „Einsamkeit kommt bei StudentInnen wie in allen Gesellschaftsgruppen vor. Sie muss gesellschaftsfähig werden, auch weil wir den Umgang mit ihr verlernt haben“, sagt sie. Stattdessen werde Einsamkeit pathologisiert – sie sei ein Tabuthema.

Aber kann man denn als StudentIn wirklich einsam sein? Jeder hat doch heute hunderte Facebookfreunde. Ein Smartphone mit WhatsApp, Twitter und anderen Kommunikationskanälen.

„Ich weiß, dass ich mit Einsamkeit ziemlich allein dastehe, aber das bin ich ja gewohnt. Wenn man so was im real life jemandem aus meiner Altersklasse erzählt, ist man ja so was von uncool“, beklagt sich „gfinbscjk“ auf studis-online.

„Die sozial Isolierten sind meist junge Männer, die gar keine anderen sozialen Kontakte haben, außer morgens den Rechner hochzufahren und bei Facebook zu gucken, wer geschrieben hat“, erzählt Wieters.

Sabine Stiehler leitet die psychosoziale Beratungsstelle des Studentenwerks Dresden. Sie rät zu mehr sozialen Kontakten. „Wir ermutigen zum Smalltalk: Nonsens ist Konsens“, sagt Stiehler.

Doch Leute zum Feiern finden sich leichter als Leute für komplexe Gespräche. Hinzu kommt die Fluktuation, die ganze Studienzeit ist vergänglich.

„Überall wird Flexibilität verlangt“, warnt Einsamkeitsforscherin Bohn. Alle müssten immer bereit sein, quer durch die Republik zu ziehen. Und dann irgendwo bei null anfangen.

* Namen geändert

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