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Junge Deutsche schlagen öfter zu

■ Christian Pfeiffer, Kriminologe aus Hannover, zur Kriminalstatistik 1996

taz: Wie bewerten Sie die jüngste Kriminalstatistik für 1996?

Christian Pfeiffer: Zunächst einmal ist die Gesamtkriminalität nicht angestiegen. In einigen Bundesländern sinkt sie sogar deutlich. Zu einer Dramatisierung besteht kein Anlaß. Alarmierend ist aber die angewachsene Jugendgewalt.

Die angeblich vorwiegend von jungen Ausländern verübt wird.

Die Zahlen sprechen gegen diese Annahme. In den alten Ländern nahm etwa die Gewaltkriminalität jugendlicher Deutscher um 14,9 Prozent zu, die jugendlicher Ausländer um 12,8 Prozent. Am stärksten, um etwa ein Fünftel, ist die Raubkriminalität Jugendlicher gestiegen: die der deutschen um rund 23 und die der ohne deutschen Paß um 15 Prozent.

Müssen alte Damen um ihre Sicherheit fürchten?

Nein. Das Risiko älterer Menschen – Über-30jähriger und auch Über-60jähriger –, Opfer eines Raubes zu werden, bleibt gering.

Wo liegen die Ursachen des gewaltsamen Abzockens?

Ein englischer Kollege hat kürzlich prägnant von juvenile violence in a winner-looser-culture gesprochen. Das heißt, wie in allen anderen europäischen Ländern steigt in der Bundesrepublik die Zahl junger Menschen, die nicht wissen, wohin mit ihrem Taschengeld. Ihnen steht die wachsende Zahl derer gegenüber, die materiell für ihr Leben keine Perspektive sehen.

Gibt es überdurchschnittlich viele Einwandererkinder, die auf der Verliererseite stehen und kriminell werden?

Generell ist bei Deutschen und Ausländern seit Mitte der 80er Jahre die Gewaltkriminalität der Über-30jährigen nicht mehr angewachsen. Bei der Jugendkriminalität holen die jungen deutschen Männer gegenüber den jungen Ausländern zur Zeit auf.

Gibt es hierbei ostdeutsche Besonderheiten?

Ja. Beim Delikt schwerer Diebstahl haben inzwischen die heranwachsenden Ostdeutschen die Ausländer ihrer Altersgruppe überholt: Im Osten, wo ja kaum Ausländer leben, wurden 2,2 Prozent der 18- bis 20jährigen als eines schweren Diebstahls Verdächtige registriert, bei den gleichaltrigen Ausländern im Westen waren es 1,9. Kriminalität ist also keine Frage des Passes, sondern eine Frage der sozialen Integration.

Also berufliche Perspektiven statt härterer Strafen?

Das sehe ich auch so. Ein Blick nach Österreich zeigt: Dort gibt es europaweit die geringste Jugendkriminalität und die geringste Jugendarbeitslosigkeit. Bei jungen Männern liegt die Arbeitslosigkeit im EU-Durchschnitt bei 20 Prozent, in Österreich bei nur 4,9 Prozent. Interview: Jürgen Voges

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