: Großer Gegner namens Lärm
Torball ist Europas populärste Blindensportart. Doch bevor die Nationalspielerin Gabi Brehm den Klingelball parieren kann, muß sie erst den Hindernissen des Alltags trotzen ■ Von Thomas Herget
Darmstadt (taz) – Zuerst hört man nur das Klackern der Stöcke am Bordstein. Dann kann es noch Minuten dauern, bis dick vermummte Zeitgenossen die letzte Häuserecke, Richtung Carl-Ulrich-Schule, im Gänsemarsch nehmen. Etwas skurril mutet es an, wenn sich die tippelnde Menschentraube immer freitags mit ihren fragilen Tasthilfen den Weg durch den Darmstädter Vorort Arheiligen bahnt. Den zehrenden Ausflug zwischen Straßenbahnhaltestelle und Sporthalle, ein eher trostloser Klotz aus rotem Ziegelwerk und Turnvater-Jahn-Charme, nutzt Gabi Brehm deshalb zur kleinen Regelkunde: Immer dem Klang des Balles nach, im letzten Moment abtauchen, katzenhafte Bewegungen. Die Botschaft scheint verstanden, denn die drei Männer mittleren Alters nicken zustimmend.
Darmstadts Auswahlspielerin hat es wieder einmal geschafft; wildfremde Newcomer zum Training in einer Sportart namens Torball zu überreden. Vor einer Stunde warteten die noch gemütlich auf ihren Bus, jetzt rutschen Manni, Thorsten und Hans, trotz vorauseilender Theorie, einigermaßen orientierungslos über den grauen Linoleumboden.
Meilenweit fliegt die Pille unter, über oder neben den Überraschten vorbei in die rückwärtigen Maschen. Die Glöckchen an den drei Markierungsleinen, die quer über das Spielfeld gespannt sind, erklingen heute abend besonders häufig – auch weil Brehm selbst unerwartet oft mit wilden Würfen übers Ziel hinausschießt. Obwohl das einsfünfzig auf sieben Meter große Tor wie vernagelt scheint, beschwört die junge Frau dennoch unermüdlich den Mannschaftsgeist. Schließlich ist die Abteilung Torball der Versehrtensportgemeinschaft (VSG) Darmstadt dringend auf Nachwuchs angewiesen, selbst wenn der, so wie heute, bei alteingesessenen Traditionsklubs längst bei den Alten Herren mitklickern müßte.
Wer etwas sieht, kriegt eine Brille
Das Spiel mit der vollleyballgroßen Klingelblase, die von zwei dreiköpfigen Gegnerteams abgeblockt, weitergegeben und unter den kniehohen Begrenzungsseilen hindurchgeworfen werden muß, fordert vollen Körpereinsatz und eine insbesondere für Sehende überraschende Reaktion auf akustische Informationen. Rund 2.000 Aktive sind in Deutschland am Ball. Wer über eine Restsehschärfe verfügt, bekommt eine Schwarzbrille verpaßt. Chancengleichheit auch für Frauen: lediglich bei großen internationalen Turnieren wird die Tradition von gemischtgeschlechtlichen Teams aufgebrochen.
Knie-, Ellenbogen- und Kopfverletzungen seien trotz einstudierter Falltechniken und dicker Schoner an den Extremitäten an der Tagesordnung, sagt Brehm. Gerade Sehende, deren Hörsinn weniger ausgeprägt sei, kämen beim Probetraining selten ohne Blessuren davon. Der schlimmste Gegner der hechtenden Athleten aber seien große, unruhige Hallen, in denen sich der anfliegende Ball schwer orten lasse. Was Handballern mittels ohrenbetäubender Geräuschkulisse den letzten Kick verschaffe, bedeute hier den Tod einer kontrollierten Matchführung. „Halt doch mal das Maul!“ hört sich Brehm, sonst die Ruhe selbst, dann brüllen. Klar, daß sie dabei errötet. Die Steffi Graf des deutschen Blindensports – blonde Haare, gute Beinarbeit – hat ihrer Behinderung immer sportlich getrotzt. Beim Square-Dance mit Sehenden vor acht Jahren bekommt sie erstmals beide Facetten der gesellschaftlichen Ausgrenzung zu spüren, ein überzogenes Helfersyndrom auf der einen und die latente Ablehnung ihrer Umwelt auf der anderen Seite. Mit 20 spitzt sich auch das Absterben der Netzhaut, unter dem sie von Geburt an leidet, dramatisch zu. Ihr damaliger Freund, ebenfalls schwerst sehbehindert, bietet ihr Schutz, schlägt aber keine Brücke in die Welt der Sehenden: „Das war wie: Neger küssen im Tunnel.“ Viele Blinde, bekennt sie selbstkritisch, seien an ihrer sozialen Stellung in der Gesellschaft selbst schuld. Es reiche nicht aus, das nur schwach entwickelte behindertengerechte Denken in Selbsthilfegruppen zu bedauern. Vielmehr müsse der Betroffene wie selbstverständlich seine Rechte in der Bürgergemeinschaft individuell einklagen.
Die verbliebene Restsehkraft von 7 Grad des Gesichtsfeldes (normal sind 180), die sie in die Welt wie durch einen Strohhalm blicken läßt, ist für die gebürtige Bad Hersfelderin keine Einbahnstraße ins Schattenreich, sondern ein Wegweiser zum Licht am Ende des Tunnels. Der Opferrolle erwehrt sie sich in Selbstverteidigungskursen.
Angewiesen auf die Gnade des Hausmeisters
Die Fähigkeit, sich dabei am anderen Körper zu orientieren, schult sie tagtäglich in ihrem Job als Physiotherapeutin in einer Massagepraxis. Nebenbei vermittelt der nicht sehbehinderte Lebenspartner ihr die Welt mit anderen Augen – so enden gemütlich begonnene Tandem-Ausflüge ins Grüne als wortreiche, topographische Exkursionen in Sachen Farben und Fauna. „Irgend jemand muß schließlich was sehen“, ist der Nationalspielerin aufgefallen, „sonst geht der Gesprächsstoff aus.“ Fröstelnd wirkt derweil die Atmosphäre im kalten Licht der Neonröhren. Deshalb hat es dem fülligen Mann an der Seitenauslinie, der seit gut einer Stunde unruhig auf einem lederbezogenen Kasten rumrutscht, aber nicht die Sprache verschlagen. Trotz unübersehbarer technischer Mängel des Spielermaterials. Gert Zimmermann – Übungsleiter, Busfahrer, taktischer Betreuer und selbsternanntes „Mädchen für alles“ im VSG – bedrückt vielmehr die monetäre Situation seines Klubs. Knapp bemessen sind schon die Budgets der Auswahlmannschaften des Deutschen Behinderten Sportverbands (DBS). Fördermittel, die an die Landesverbände durchgereicht würden, erzählt Zimmermann, gingen gegen null. Sponsoren? Fehlanzeige.
1949 ausschließlich als Kriegsversehrtensportverein gegründet, rückt die VSG heute hauptsächlich Zivilisationskrankheiten zu Leibe. Mit rund 1.200 Mitgliedern gehört die Abteilung zu den größten im südhessischen Raum – eine Lobby freilich hat sie nicht. Wenn der Hausmeister der angrenzenden Schule freitags mittags keine Lust mehr habe, sagt Gabi Brehm, „dann schließt er einfach die Halle zu und geht nach Hause“. Das Geld für die Straßenbahn hätte sie sich dann auch sparen können.
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