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Der jamaikanische Riddim Shift

„All Eyes on We“: Die Teilnahme der Reggae Boyz an der Fußball-WM wird heiß debattiert im kleinsten Land, das sich je qualifiziert hat. DJs feiern „Togetherness“ statt „Clash“ und „Competition“  ■ Von Ellen Köhlings und Pete Lilly

Wie jeden Abend versammeln sich Frauen, Männer und Kinder bei Miss Rose, dem Herz der kleinen Nachbarschaft Bachelors Hall. Auf den ersten Blick ist es ein Abend wie viele in der Community, etwa eine Autostunde von Montego Bay entfernt. Hier unterscheiden die Menschen zwischen „Town“, „Country“, „Country- Country“ und „Bush“. Bachelors Hall liegt im Busch. Trotzdem werden alle Ereignisse bis hin zur Weltpolitik bekakelt. Dazu gehört unzweifelhaft das bevorstehende Fußballspiel Brasilien gegen Jamaika.

Seit einem halben Jahr spricht alles nur noch von den Reggae Boyz, wie das Nationalteam des kleinsten Landes, das je die Weltmeisterschafts-Qualifikation geschafft hat, liebevoll genannt wird. Ein identitätsstiftendes Wir-sind- wer-Gefühl beherrscht Jamaika, wo bisher das Kolonialerbe Cricket die Sportnachrichten bestimmte. Auch hierzulande haben die Medien einen neuen Liebling gefunden. Um Sport geht es dabei weniger. Theoretisch hätten genausogut Japan oder Südafrika als WM-Debütanten den Exotenbonus einheimsen können, doch die ganze Welt freut sich auf Rum trinkende, zu Reggaerhythmen tanzende und kiffende Rastas: Es kommt Farbe ins Spiel!

Eine Mannschaft, die sich auch selbst Reggae Boyz nennt, ist nicht ganz unschuldig an solchen Blüten. Zweifellos ist Reggae im allgemeinen und Dancehall im besonderen der Herzschlag der Karibikinsel. Außerhalb der All-inclusive-Hotels ist der wummernde Baß allgegenwärtig, er dröhnt aus Taxis, Minibussen, lokalen Bars, jedem Haushalt mit Radio und natürlich aus den monumentalen Lautsprechertürmen der jeden Abend irgendwo aufspielenden Soundsystems.

Trotzdem paßt das Klischee von „Jamaica – No Problem“ nicht, hat Reggae wenig mit immerzu tanzenden Menschen und paradiesischen Stränden gemein. Sämtliche gesellschaftlich relevanten wie abwegigen Themen werden in der Musik verhandelt. Für die Mehrheit der Menschen, die von herkömmlichen Medien abgeschnitten sind, dienen DJs und ihre mobilen Soundsystems als Informationsquelle und Diskussionsforum. Von Bankenpleiten über Geschlechterverhältnisse bis zum Wetter wird die gesamte Bandbreite des jamaikanischen Alltags thematisiert. Und seit einem halben Jahr eben verstärkt auch Fußball.

Eine halbe Stunde vor Beginn der Übertragung. Gegenüber von Miss Roses Yard befindet sich eine drei Meter lange Bambusbank – ein Treffpunkt, der von mindestens zehn Kindern in Beschlag genommen wird. ZuschauerInnen sind bei ihrer allabendlichen Darbietung erwünscht. Die etwa fünfjährigen TänzerInnen beherrschen die neuesten Styles: alle viere am Boden, den Hintern hoch in die Luft, mit jedem Beat zuckt erst die rechte, dann die linke Pobacke. Aus gegebenem Anlaß werden heute abend Songs über die Reggae Boyz angestimmt: „Changing Changes, Not Rearranging, Reggae Boyz A Score, All Eyez On We!“

Bereits vor der sensationellen Weltmeisterschafts-Qualifikation wurde der jamaikanische Plattenmarkt mit Reggae-Boyz-Hymnen bekannter Dancehall-DJs überschwemmt, unter anderem von Sanchez, Mega Banton, Beenie Man und Tony Rebel. Seither dröhnt es unentwegt von der Reggae-Radiostation Irie FM: „Football Glory, Go Reggae Boyz Go, Rise Up, The Long Road To France“ etc. Immerhin ist Jamaika das erste englischsprachige karibische Land – 1934 gelang das Kunststück bereits einmal Kuba, vierzig Jahre später Haiti –, das an einer Fußballweltmeisterschaft teilnehmen darf. Und das ist mehr wert als anderswo der Titel selbst.

Ein sogenanntes Dritt-Welt- Land wie Jamaika muß ohne Profiliga, Sponsoren, oft sogar ohne Fußballschuhe und „echte“ Bälle auskommen. Sportliche Selbstverständlichkeiten wie die Einstellung einer Physiotherapeutin (Lovely Denise) und eines Mannschaftskochs (Sam the Chef) würden in Deutschland wenig Aufmerksamkeit bekommen.

Nicht so in Jamaika, wo fließendes Wasser nicht zur Grundversorgung gehört, Arbeitsplätze Luxus sind, Hunger nur dadurch abgewendet werden kann, daß das Nötigste an Bäumen wächst.

Jamaikas Technischer Direktor mit Hang zum Pathetischen, der Brasilianer René Simoes, kündigt aufgrund des fußballerischen Erfolges eine „kulturelle Revolution“ an. Der Premierminister P.J. Patterson erhebt den legendären 16. November 1997, den Tag des entscheidenden WM-Qualifikationsspiels Jamaika vs. Mexiko (0:0), zum Nationalfeiertag und räumt ihm den gleichen historischen Stellenwert ein wie dem 6. August 1962, dem Tag der Unabhängigkeit.

Erst im Dezember ist Patterson, Chef der Peoples National Party, mit absoluter Mehrheit in seinem Amt bestätigt worden – wohl nicht zuletzt wegen seiner finanziellen und moralischen Unterstützung für die Reggae Boyz. Daß die Wahl als die friedlichste Jamaikas in die Geschichte eingeht, wird vielerorts mit dem WM-Einzug begründet. Im Rampenlicht der Weltöffentlichkeit will niemand durch negative Schlagzeilen den Ruf des Landes gefährden, wie das bei der bisher gewalttätigsten Wahl der Fall war, 1980, als Edward Seagas konservative, dem US-amerikanischen Kapitalismus wohlgesonnene Jamaican Labour Party (JLP) Michael Manleys damals noch sozialistisch-demokratische PNP ablöste. Offiziell wurden über 800 Tote mit der Wahl in Verbindung gebracht. Beide Parteien unterstützen mit Hilfe US-amerikanischer Interessengruppen jeweils rivalisierende Banden in Kingston beim Handel mit Waffen und Drogen, um so ihren Einfluß in bestimmten Bezirken der Stadt zu sichern und die Gangs mit Versprechungen gegeneinander auszuspielen. Seither läuft eine Demarkationslinie durch das schachbrettartig in Parteigarnisonen unterteilte Downtown-Kingston, die zu überschreiten besonders vor den Wahlen tödlich sein kann.

Heute jedoch möchte sich Jamaika als einheitliche Nation präsentieren: „One God, One Aim, One Destiny“ (Marcus Garvey). Das spiegelt sich auch in der Musik wider. Selbst wenn es nicht direkt mit dem Erfolg der Reggae Boyz im Zusammenhang steht, ist es kein Zufall, daß zeitgleich mehr und mehr Konzerte und Dancehall-Nächte unter dem Motto von „Niceness“ und „Togetherness“ stehen, wo früher „Clash“ und „Competition“ die Veranstaltungen bestimmten. Damit einher geht ein „Great Riddim Shift“ von Slackness zu Consciousness. Wurde die Dancehall noch bis Mitte der Neunziger von sexistischen, drogen- und gewaltverherrlichenden Männerphantasien dominiert, so spricht man heute von einem „Roots & Culture“-Revival.

Seit einigen Jahren haben sich die Wertigkeiten verschoben, so daß heute mehr und mehr Akteure – wie Luciano, Anthony B, Sizzla, Capleton und der bekehrten Buju Banton – Spiritualität, Rasta- Werte und verstärkt politische Systemkritik zum Thema machen. DJ Bounty Killer bringt die Stimmung auf den Punkt: „Poor People Fed Up.“

Daß der Technische Direktor René Simoes spirituell argumentiert, trifft genau den Nerv des Landes. In Jamaika zählt weniger, woran man glaubt, als daß man glaubt – die Karibikinsel ist ein multireligiöses Land. Seit seinem Amtsantritt 1994 ist der überzeugte Christ Simoes am Spielfeldrand immer in seinem „Jesus Saves“-T-Shirt zu sehen. Vor jedem Spielbeginn lädt er einen Prediger zum gemeinsamen Gebet in die Kabine und akzeptiert als erster Nationaltrainer Rastas im jamaikanischen Team. Überhaupt werden ihm, dem Vater des Erfolges, viele einschneidende Veränderungen gutgeschrieben.

Er führte regelmäßiges Training unter international vergleichbaren Bedingungen ein, gab den Spielern zum ersten Mal das Selbstvertrauen und den Glauben, etwas im Fußball erreichen zu können. Vor allem gewann er zahlungskräftige Wirtschaftsunternehmen als Sponsoren (Kentucky Fried Chicken, Red-Stripe-Bier, American Airlines). Dadurch brachte er die Jamaican Football Federation in die Lage, ihren Spielern Gehälter zu zahlen, englische Profis jamaikanischer Herkunft langfristig an die Mannschaft zu binden und Auslandsreisen zu Turnieren und Freundschaftsspielen zu finanzieren.

Einige Männer kommen erst spät mit ihren Macheten – oft ihr einziges Werkzeug – und Beuteln voller Brotfrüchte aus dem Busch. Vor dem Fernsehgerät bei Miss Rose sind die besten Plätze längst besetzt. Fernsehen, Telefon, Auto, Kühlschrank – was andernorts als lebensnotwendig deklariert wird, steht häufig nur einmal pro Gemeinde zur Verfügung, oft Ausrangiertes von Verwandten aus England oder den USA. Aber wer so aufwächst, lernt schnell zu improvisieren, Boxdrinks (Tetra- Paks), gefüllt mit Kieselsteinen, werden zu Ersatzfußbällen. Aufgeregt werden die Chancen der Reggae Boyz gegen den amtierenden Weltmeister diskutiert. Eine angespannte Nervosität macht sich breit. „Dieser Ronaldo wird total überschätzt, der kommt nie durch unsere Abwehr.“ – „Na, wenn wir da mal nicht 10:0 verlieren.“ – „Wenn wir Brasilien schlagen, dann werden wir Weltmeister.“

70. Minute. Immer noch steht es 0:0. Inzwischen scharen sich mehr und mehr Zaungäste um Miss Roses Haus. Sie selbst ist bereits ins Bett gegangen – die Aufregung! Ansonsten kommen die lautesten und engagiertesten Kommentare von Frauen. Da Frauen – als Billigproduzentinnen für amerikanische Textilfirmen – oft das finanzielle Sagen in den Familien haben, übernehmen sie mehr und mehr auch Machtpositionen im öffentlichen Leben.

Wenige Minuten vor Schluß wird der Stürmer Theodore „Tappa“ Whitmore – Frauenliebling – im gegnerischen Strafraum zu Fall gebracht. Ein Aufschrei! Elfer! Aber der Pfiff bleibt aus. Miss Rose hält es nicht mehr im Bett. Auch sie will feiern, denn für alle sind die Reggae Boyz Sieger. Wenigstens moralisch.

Spieltermine: 14.6., 21 Uhr: Jamaika–Kroatien

21.6., 17.30 Uhr: Jamaika–Argentinien

26.6., 16 Uhr: Jamaika–Japan

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