: Die wunderbare Wirklichkeit
Schon traditionell dem Alltag und der Logik des Zufalls verpflichtet: Mit einer Auswahl von Regiedebüts aus Frankreich bestätigt das „Festival des Premiers Films“ im Arsenal alle Vorurteile über die gute Qualität des jungen französischen Kinos ■ Von Iris Depping
Die alte Dame unter der heißen Sonne von Tel Aviv. Seit Stunden ist sie unterwegs: zu Fuß, mit dem Bus, im Taxi. Vor wenigen Tagen ist die Russin französischer Abstammung als jüdische Einwanderin in Israel angekommen. Jetzt sucht sie das vornehme Altersheim, in dem ihre vermutlich einzige noch lebende Verwandte wohnt.
Die Erschöpfung, die Ungewissheit, die Zähigkeit, all das folgt in „Voyages“ von Emmanuel Finkiel nicht aus dramatisierenden Schnittfolgen, sondern allein aus der schlichten Chronologie des unermüdlichen Gehens dieser jüdischen Laiendarstellerin. Sie verschwindet hinter fahrenden Autos, taucht wieder auf, und zwischendurch einmal hält sie rastend inne, am fremden, leuchtend blauen Meer. Diese Sequenz reiner menschlicher Willenskraft ist beispielhaft für das moderne und zugleich zeitlos konservative Potenzial des französischen Kinos.
Konservativ, weil sich seit der französischen Rezeption des italienischen Neorealismus der 40er-und 50er-Jahre stilistisch so gut wie nichts verändert hat. Modern, weil es im Kino vielleicht nichts Moderneres gibt als den Neorealismus, der sich zwar längst von seinem ursprünglich rein sozialkritischen oder klassenkämpferischen Anspruch befreit hat, nicht aber von der tiefen Humanität, die ihm zu Grunde liegt. Auch die Reihe von preisgekrönten französischen Debütfilmen, die das „Festival des Premiers Films“ vom 4. bis 7. Dezember im Kino Arsenal präsentiert, bekennt sich wie selbstverständlich zu einer filmischen Haltung, die traditionell dem Alltag verpflichtet ist, der möglichst unmanipulierten Wirklichkeit des Menschen, aber auch der mystischen Logik des Zufalls.
Für das Kino folgt daraus ein subtil dosiertes Gemisch aus Laiendarstellern und professionellen Schauspielern, eine konsequent antidramatische Erzählweise und schließlich die hohe Kunst des „unsichtbaren“ Inszenierens. Im Kino an die Wirklichkeit glauben, heißt auch, deren Geheimnisse zu respektieren. „L'Arrière Pays“ („Hinterland“) von Jacques Nolot ist ein bestechend schlichter Film um einen allein stehenden Schauspieler, der in sein Heimatdorf fährt, um seine sterbende Mutter zu besuchen.
Das Dorf ist das Heimatdorf des Regisseurs, der auch die Hauptrolle spielt, und die Bewohner sind „echt“. Diesen Gegebenheiten ist es zu verdanken, dass die Beerdingungsprozession zu Ehren der toten Mutter genauso unnormal aussieht, wie man es „normal“ kennt. Die kurzen, sehr prägnanten Dialoge der Laiendarsteller konfrontieren nüchtern und doch sensibel die unvereinbaren Welten, die anlässlich des Todes eines alten Menschen für kurze Zeit aneinander geraten und kommunizieren müssen. Anstatt Handlungsstränge und Charaktermerkmale von Figuren auszuwalzen, will die Wahrheit erspürt werden, aus dem Vorgefundenen. Oftmals ist es die Natur, die der Geschichte wie ein schweigsamer Gefährte Gesellschaft leistet.
Der Wind, die Gräser, das Wasser und das Sonnenlicht, sie alle wissen um die ungelüfteten Geheimnisse und sind zugleich enigmatisches Versprechen auf Erlösung.
In „Laisse un peu d'amour“ („Lass ein wenig Liebe da“) von Zaida Ghorab-Volta schweigen die herben Gräser im kühlen Wind zum Ende einer Beziehung, während der Freund einer suizidgefährdeten jungen Frau ungeduldig darauf drängt, dass alles bleibt, wie es ist. In „Plus qu'hier, moins que demain“ („Mehr als gestern, weniger als morgen“) von Laurent Achard brechen ganz leise die alten Wunden einer unglücklichen Liebe wieder auf, mitten im impressionistischen Sommerlicht eines ländlichen Laubwaldes mit einem kleinen See.
Wenn sich aus der Anhäufung von scheinbar ungeordneten, gleichwertigen Zeichen der Wirklichkeit dennoch einmal so etwas wie ein Wunder ereignet, kann es, wie am Schluss von „Voyages“, ein nahezu metaphysisches Ausmaß annehmen. In Tel Aviv kommt die alte Dame im Linienbus zufällig ins jiddische Gespräch, mit einer Frau, die ihre Tochter sein könnte (oder ist). Sie nimmt deren spontan angebotene Gastfreundschaft dankbar in Anspruch, um sich im Haus ein wenig Schatten zu gönnen. Als die im Raum schwebende Frage der Blutsverwandschaft ausgerechnet jetzt nicht gestellt wird, vielleicht weil man es nicht willl, entlädt sich die aufgestaute Energie des Films.
Nicht nur, weil in diesem Moment drei scheinbar lose verbundenene Geschichten zwischen Polen, Paris und Tel Aviv kulminieren. Ohne es auszusprechen, manifestiert sich für wenige Augenblicke im höflichen und doch vertrauten Umgang dieser beiden Frauen, die ihre Verwandten ein Leben lang gesucht haben, die kollektive Sehnsucht eines ganzen Volkes nach Unversehrtheit.
„Festival des Premiers Films“, vom 4. bis 7. Dezember, Arsenal, Welserstr. 25, Schöneberg. Genaue Termine siehe cinemataz. Alle Vorführungen finden in Anwesenheit der FilmemacherInnen statt.
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