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■ Vor dem Berliner Parteitag: Die Sozialdemokraten müssen erkennen, wie der Zerfall ihrer Partei in so kurzer Zeit möglich warEine Partei, die nicht weiß, was sie tut

Nach dem Wahlsieg betrieb die SPD Politik gegen Teile ihrer eigenen Klientel

Was für ein Jahr geht für die SPD zu Ende! Im Januar lag sie bei 44, im Dezember knapp über 30 Prozent. Wenn der Berliner Parteitag eine Etappe im Rekonstruktionsprozess werden soll, dann müssen die Sozialdemokraten jetzt erkennen, wie dieser radikale Zerfall einer so großen Partei in so kurzer Zeit möglich war.

Es war eine Erosion, die alles erfasste: die Kompetenzzurechnung, das Image, die Glaubwürdigkeit. Der Sieg im September 1998 war auf Sand gebaut. Warum? Das Steuerungszentrum, das den Sieg möglich gemacht hatte – also Lafontaine, Schröder, Müntefering – zerfiel nach der Wahl. Der Fehler war, dass der Vorsitzende Finanzminister wurde und Müntefering ein Ressort bekam – statt die Leitung des Kanzleramts oder der Partei. Der Zerfall in zwei Zentren – Schröder und Lafontaine – hatte Folgen. Es fehlte eine verantwortliche Ebene für strategische Steuerung und Kommunikation. Die Machtdiffusion wurde durch Politikdifferenzen zwischen den Hauptakteuren verschärft.

Der kunstvoll aufgebaute Orientierungsrahmen „Innovation und Gerechtigkeit“ geriet in Vergessenheit. Die Einzelprojekte wurden diesen Leitkonzepten nicht zugeordnet. So verloren erst die Akteure, dann die Wähler den roten Faden. Die künstliche Aufteilung von Innovation und Gerechtigkeit auf zwei Personen funktionierte nicht mehr. Der Gerechtigkeitsspezialist Lafontaine scheiterte schnell an seinem Projekt, der Regulierung internationaler Finanzmärkte. Der Innovationsspezialist Schröder vergaß in seinem Papier mit Blair, die Frage nach sozialer Gerechtigkeit auch nur anzuschneiden. Um die Wähler kümmerte sich keiner mehr.

Dabei stimmt die Annahme „Mehrheit ist Mehrheit“ heute nicht mehr. Die Akzeptanz für Rot-Grün hätte erst nachträglich erworben werden müssen – tatsächlich sank sie und liegt heute bei etwa 10 Prozent. Die SPD hätte nach der Wahl noch dringender als zuvor Zielgruppenpolitik gegenüber ihrer extrem heterogenen Wählerschaft gebraucht – vor allem dann, wenn die übergreifenden Angebote der Bundestagswahl nicht mehr und noch nicht zur Verfügung standen: Der Machtwechsel war vollzogen und am Arbeitsmarkt bewegte sich noch immer nichts.

Tatsächlich betrieb die SPD Politik gegen Teile ihrer eigenen Klientel, etwa beim 630-Mark-Gesetz oder bei der doppelten Staatsbürgerschaft. Das Schlimmste dabei: Sie wusste es nicht. Ihre Wählervergessenheit zeigte sich auch darin, dass ihre – nachgeschobene – Behauptung, das in sich sozial ungerechte Sparpaket sei mit den Sozialgesetzen vom Anfang des Jahres zu verrechnen, die Wähler im Mai nicht mehr erreichte. Die sozialen Besserstellungen hatten die Wähler bereits mit ihrer Stimmabgabe bei der Bundestagswahl verrechnet. Sie waren quitt mit der SPD und empörten sich über die soziale Schieflage des Sparpakets.

Am Ende des Jahrhunderts sind erfolgreiche Parteien Minimalparteien. Sie haben eine Botschaft, bestehend aus einem Orientierungsrahmen sowie damit verknüpften Projekten, und sie bieten Führer, die dafür stehen. Die notwendigen Elemente lagen bereit. Mehr als 20 Millionen sozialdemokratischen Wähler hatten sie eingeleuchtet. Nur die Partei selbst hatte noch nicht verstanden, wie eine Minimalpartei funktioniert. Auch die Partei-Elite wusste nicht, dass und wie die Kampagne, die Wahl und das Regieren miteinander zu verbinden waren. Die Kompetenz zu übergreifender strategischer Steuerung und Kommunikation hatte nach Auflösung des vor der Wahl bestehenden Zentrums keinen Ort mehr. Die Partei war in das Geheimnis ihres Erfolgs nicht eingeweiht worden.

Die SPD braucht jetzt keine neuen Programme. Von einer Regierungspartei erwartet man, dass sie einige ihrer Projekte umsetzt, nicht, dass sie damit anfängt zu überlegen, was sie in der Regierung tun könne. Die SPD braucht jetzt nicht einmal neue Ideen – die benötigt sie 2002, wenn sie sagen muss, wie Deutschland 2100 aussehen soll. Heute enthält der Koalitionsvertrag viel, von dessen Verwirklichung abhängt, wie die Weichen ins neue Jahrtausend gestellt werden – etwa zu den Themen Energie, Renten oder Arbeit. Das zu präzisieren und zu realisieren ist Zukunftspolitik heute.

Es ist wahr, der deutschen Sozialdemokratie fehlt im europäischen Vergleich bisher ein eigenes Profil, mit dem es etwa die Niederländer und die Schweden, die Briten und die Franzosen zur Unterscheidbarkeit gebracht haben. Überall entwickelt sich ein solches Profil aus den besonderen nationalen Gegebenheiten heraus, meist im Regierungsprozess, nicht nach fertigem Plan, sondern als Effekt von Trial and Error. Hinterher kann man das, wenn man will, ein „Modell“ nennen.

Die SPD wird viel über die Gerechtigkeitsfrage sprechen. Das muss sie auch, will sie die Abwanderung ihrer Wähler stoppen. Aber sie ist auch wegen einer Balancierung von Gerechtigkeit und Innovation gewählt worden. Bisher gibt es kein populäres Innovationsprojekt der SPD. Die Partei regiert eher gegen die Modernisierungsängste ihrer Anhänger an. Das gilt für die private Säule der Rentenversicherung ebenso wie für die Ökosteuer.

Ohne das Bündnis mit den Grünen kann die SPD sich nicht aus dem Sumpf ziehen

Zum Innovationsprojekt ist – der Not und Notwendigkeit gehorchend – die Sparpolitik avanciert. Tatsächlich liegen in den Folgen von Sparen ja auch Innovationschancen. Die sind aber zeitlich weiter entfernt und ungewiss. Eine sozialdemokratische Partei an der Regierung, deren Anhänger alles andere als Sparen erwarten, bekommt eine von ihren Wählern akzeptierte Sparpolitik nur hin, wenn sie zwei Kriterien folgt. Wähler wollen, dass Sparen sozial gerecht und selektiv erfolgt. Der eher unwahrscheinliche Erfolg der Sozialdemokraten auf fremdem Terrain hängt davon ab, ob sie die administrative Logik von Ressorts der lebensweltlichen Logik von Wählern annähern können.

Wie kann die SPD sich aus dem Sumpf der 30 Prozent ziehen? Nicht durch die Selbstheilungskräfte der Basis, nicht durch ein neues Grundsatzprogramm, nicht durch Scheindebatten schwächer werdender Flügel. Eher durch Linienführung, die zusammenfügt, was zusammengehört: die Orientierung auf Innovation und Gerechtigkeit, die unterschiedlichen Erwartungen der Wählerschaft und die zentralen Projekte der Regierung. Die Partei selbst muss sich solche Zusammenhänge aneignen, bevor sie sie den Wählern erklären kann. Die Führung muss sie herstellen und darstellen. Ohne das neu begründete strategische Zentrum Schröder/Müntefering – also das Alte minus Lafontaine! – und ohne die SPD-Hausmarke MM – Müntefering/Machnig – wird das nicht gehen. Allerdings auch nicht ohne das Bündnis mit den Grünen, ohne die die SPD eine andere Partei wäre.

Joachim Raschke

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