in fußballland: Filmreifer Abgang
CHRISTOPH BIERMANN über die Folgen prekärer Verhältnisse in der Bundesliga
Am liebsten wäre ich aufgestanden, gegangen und nie mehr wiedergekommen. Ich malte es mir so melodramatisch aus, wie ein Abschied nach über drei Jahrzehnten nur sein kann. Ich wollte die Bilder mit Streichern unterlegen (vielleicht würde ich bei Erich Wolfgang Korngold etwas Passendes finden), und ich sah mich zu diesen Klängen am Horizont verschwinden. Vielleicht in einem Auto, aus dem erst noch ein blau-weißer Schal flattert, der dann aber in die Luft wirbelt und in einer Pfütze liegend zurückbleibt. Ende. Abspann. Schluss.
Wenn man sich nach so langer Zeit trennt, tut es weh, das sollten diese Bilder zeigen. Aber so ein Abschied kann auch eine Befreiung sein, das sollte man ebenfalls sehen. Doch zum Glück sind meine Anwandlungen, das Leben für einen Spielfilm in Cinemascope zu halten, eher selten und legen sich schnell wieder. Dennoch dauerte es ein wenig, bis der Wunsch nach einem Ausstieg verflogen war und sich in die normale Benommenheit nach einer Niederlage verwandelte. Denn meine Mannschaft war trotz einer tollen Leistung in der zweiten Halbzeit, in der angesichts einiger sehr guter Torchancen gegen das Überraschungsteam der Saison sogar ein Sieg möglich schien, durch zwei Gegentore in den letzten drei Minuten plötzlich ins Nichts gestürzt. Sie hatte verloren und bei mir für einen Moment den Wunsch nach einem theatralischen Abgang aufkommen lassen. Und, dass es endlich aufhört mit diesen verdammten Niederlagen.
Mit ein paar Tagen Abstand fand ich diese Anwandlung erstaunlich, denn beim VfL Bochum ist das verlorene Spiel wahrscheinlicher als das gewonnene. Dazu braucht man nur die Ewige Tabelle der Bundesliga anzuschauen, wo in 31 Spielzeiten knapp 130 Niederlagen mehr als Siege verzeichnet sind; und bei Niederlagen im eigenen Stadion hatte der Klub seinen eigenen Ligarekord auf 140 Heimpleiten ausgebaut. Was jammerte ich also herum, wo ich das Verlieren doch gewohnt bin? Gibt es etwa einen Punkt, wo man der Niederlagen einfach müde wird, oder was war eigentlich los?
Als ich über diese Fragen nachsinnend die Bundesligatabelle genauer studierte, dämmerte mir, dass es den Anhängern überraschend vieler anderer Klubs nicht besser ging und mein Gejammer nicht Ausdruck persönlicher Befindlichkeit, sondern eines sozialen Wandels war. Die Situation meines Vereins ist nämlich auf die gleiche Weise prekär wie die etlicher anderer. Analog zum gesellschaftlichen Wandel gibt es inzwischen auch in der Bundesliga eine kleine Oberschicht, eine gesicherte obere Mittelschicht und den vom Absturz bedrohten Rest. Der muss immer mehr strampeln und wird doch kaum mehr erreichen, als den Abstieg in die Zweite Liga zu vermeiden.
Das bedeutet für die Fans dieser Klubs, dass sie umlernen müssen. Es gibt für die Bochums und Bielefelds, Duisburgs oder Freiburgs dieser Welt nur noch wenig Aussicht auf große Tage. Sie werden auch in der Zukunft sporadisch bleiben, denn dazu fehlen schicke WM-Stadien, reiche Sponsoren und ein großes Einzugsgebiet. So müssen die Anhänger dieser Klubs ihre Hoffnungen bescheiden. Vielleicht ist mal ein guter Lauf im Pokal drin und auf diese Weise eine Qualifikation für internationale Spiele. Vielleicht passt auch mal alles zusammen und der Tabellenplatz wird einstellig, aber wahrscheinlicher sind der Abstieg und die mühselige Rückkehr in die Bundesliga – wenn überhaupt.
Das ist gerade fürs langjährige Zuschauer schwer zu akzeptieren, weil es früher leichter war, sich mit Pfiffigkeit und Geschick unter die Großen zu mischen. Doch zu groß sind die wirtschaftlichen Unterschiede geworden, um mal als einer von „wir hier unten“ zu einem von „denen da oben“ zu werden. Ja, selbst die Schar derer, die im Gesicherten leben, schmilzt zusammen. Deshalb umgibt diese Klubs auch eine Aura der Säuernis aus andauernder Frustration. Doch deshalb gilt erst recht: Wer jetzt geht, hat sich keinen filmreifen Abgang verdient.
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