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Wenn der Hang abwärtsrutscht

FELSSTÜRZE UND RUTSCHENDE HÄNGE Von Schlammlawinen in Taiwan bis zur Katastrophe am Grubenrand von Nachterstedt in Sachsen-Anhalt – die Welt rutscht. Jetzt lässt sich selbst die Europäische Union eine Gefährdungskarte zeichnen. Bayern ist erst 2012 soweit

Rund 10 Prozent des Berg erhaltenden Waldes in Bayern muss aufgeforstet werden

VON KNUT DIERS

Die bei der Münchener Rückversicherung gerade frisch gedruckte Weltkarte der Naturgefahren hat einen entscheidenden Mangel – es fehlen Felssturz und Hangrutsch. Dabei sind die beiden Risiken nicht erst seit den Schlammlawinen in Taiwan vor drei Wochen oder dem plötzlichen Abgang von zweieinhalb Häusern, einer Straße und dem Tod von drei verschütteten Menschen in Nachterstedt in Sachsen-Anhalt vorhanden. Das große Rutschen liefert weltweit regelmäßig spektakuläre Bilder: In den Rocky Mountains stürzte eine ganze Bergstraße seitlich in den Colorado River. Am Grindelwaldgletscher in den Alpen stand eine Berghütte plötzlich nur noch Meter vom Abhang entfernt. Vor der Tür donnerte eine halbe Million Kubikmeter Erde zu Tal. Bis zum nächsten Unglück ist es nicht weit.

„Das Hauptproblem ist der Mensch“, stellt Tomas Fernandez-Steeger von der Technischen Hochschule Aachen fest, der sich professionell mit Frühwarnsystemen für Erdrutsche befasst. Der Mann vom Lehrstuhl für Ingenieurgeologie meint dabei nicht einmal die absehbare Katastrophe am weichen Rand von Tagebaugruben wie jetzt in Sachsen-Anhalt. Das sogenannte Setzungsfließen ist ein bekanntes Phänomen. Dabei rutscht der Boden am Wasserrand davon, als hätte er sich plötzlich verflüssigt. Über Nacht gelten alle Ränder von gefluteten Tagebauseen als potenziell gefährlich.

Fernandez-Steeger tritt dafür ein, gefährdete Hänge und Berge mit Sensoren zu bestücken. Da messen Fühler von der Hangbeschleunigung über die Neigung bis zur Bodentemperatur alles, was möglich ist, und übermitteln es dann drahtlos zum Rechner. „Die Technik haben wir bestens im Griff“, betont Fernandez-Steeger, „nur bei Warnung und Reaktion, bei Dienstwegen und Behörden – da wird es ganz schwach.“

Das heißt: Man hört den Berg rufen, aber man weiß trotzdem nicht, was zu tun ist, wenn er tatsächlich ins Tal donnert. Das liegt nach Ansicht der Forscher, die sich kürzlich im Geozentrum Hannover trafen, an den offenen Fragen: Wie werden die Daten aufbereitet, wer bekommt sie zuerst zu sehen, welche Notfallabläufe sind automatisiert, wer entscheidet darüber wie schnell, wer schaltet eine Ampel auf rot, wer stoppt den Zug, wer evakuiert das Dorf?

Zu dieser „Steuerung von Handlungen im Risikofall“ gehört es nach Ansicht von Professor Jürgen Pohl vom Geographischen Institut der Universität Bonn, Ämter richtig einzubinden. „Der Bürgermeister ist da die falsche Adresse“, beklagt Pohl. „Der Notfallplan muss bei den Behörden automatisch ablaufen.“ Den Politikern kommt eine andere Aufgabe zu: Sie müssen den Menschen am Tagebaugrubenrand oder in gefährdeten Tälern rund um die Welt immer wieder klarmachen, dass das große Rutschen bevorsteht.

Doch die unbequeme Wahrheit will der Hausbewohner meist nicht hören, wie Karl Mayer vom bayerischen Landesamt für Umwelt festgestellt hat. „Entweder sagt er, man könne alles zunageln, damit kein Hang ins Tal stürzt, oder er zuckt die Schultern und meint, das sei eben Natur und Schicksal, also nicht zu beeinflussen“, schildert der Geologe seine bitteren Erkenntnisse.

Bis 2012 will der Geologische Dienst des Landesamtes eine Gefahrenhinweiskarte für den deutschen Alpenraum vorlegen. Darin lassen sich dann gefährdete Hänge erkennen. „Damit haben endlich auch die Bürgermeister Argumente, die wildesten Baugesuche abzulehnen“, begründet Mayer sein Tun.

Selbst im Zeitalter des großen Hangrutschens wird überraschend oft der naive Wunsch geäußert: Wir wollen von unserem Häuschen den schönsten Blick haben, der Lawinenhang darüber stört uns nicht. Der Staat werde dann schon helfen, hieße dann der Nachsatz, zürnt Mayer.

Selbst die Aufgabe des Griechen Sisyphos – er musste einen Stein immer wieder den Hang hinaufrollen – wäre kein Vorbild. Liegt der Hang erst im Tal, ist guter Rat teuer. Doch den soll nun bald vorbeugend die genaue Kartierung liefern. Zwar gibt es in Mayers Augen kein Computerprogramm, das alle Hänge bewerten kann, denn „jede Rutschung ist anders“, aber „90 Prozent der Hangrutsche ereignen sich da, wo es schon mal einen Abgang gab“.

Mayer hilft bei seiner Diagnose das Schattenmodell von dreidimensionalen Luftbildern. „Wenn Sie den Schutzwald auf dem Bild wegscannen, sehen Sie oft schon sehr genau, wie bewegt der Untergrund ist“, freut sich der Geologe über die neuen Wege, den Wald durchsichtig zu machen. „Wir haben riesige Nachfrage nach unseren Ergebnissen“, berichtet Mayer, „denn viele wollen wissen, wie es um ihr Häuschen steht.“

„90 Prozent der Hangrutsche ereignen sich da, wo es schon mal einen Abgang gab“

Dass das oft an der falschen Stelle steht, hat auch mit dem Siedlungsdruck zu tun. In engen Tälern zieht sich der Brei an Häusern immer weiter hinauf in gefährliche Lagen. Aber selbst da, wo früher gebaut wurde, ist heute vielleicht der Schutzwald nicht mehr in Takt. Rund 13.000 Hektar, das sind zehn Prozent des Berg erhaltenden Waldes in Bayern, müssen in dem Bundesland aufgeforstet werden. „Da ist viel weggebrochen und licht geworden“, beklagen Förster. Einen Hektar Bergwald zu pflanzen kostet allerdings rund 30.000 Euro. Zu viel Geld für den Hangschutz?

Es ist immer wieder der Mensch, der jede Frühwarnung in den Wind schlägt, wie Rainer Bell von der Universität Wien erfahren musste. Der junge Wissenschaftler verkabelte einen gefährdeten Hang in der Schwäbischen Alb, um mit den Sensoren alle Bewegungen zu erfassen. Kalkstein und Mergel haben sich dort langsam Richtung Tal auf den Weg gemacht. Häuser zeigen erste Risse. Alle zwei Stunden läuft die Fernmessung in Bells Frühwarnsystem. „Doch die Bewohner nehmen das einfach nicht ernst“, wundert sich der Österreicher. Nach dem Ende des Projekts wollen die Bürgermeister das System nicht mal geschenkt haben. „Der Hang rutscht einfach zu langsam“, beklagt Bell, „es fehlt an Sensibilität bei den Bewohnern.“

Die ist in der Europapolitik jedoch schon vorhanden. Seit drei Jahren wird an einer Rutschungsgefährdungszonierung im europäischen Maßstab geforscht. Andreas Günther von der Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe aus Hannover ist da federführend. „Italien und Österreich sind beim ‚soil slip‘ schon sehr weit“, rühmt er die Kollegen. Günther muss die unterschiedlichen Daten der Länder europaweit zusammenfügen. Es fehlt an einheitlichen Kriterien für Gefährdungszonen und vor allem an Ideen zur Abhilfe, wenn es rutscht. „Kommt der Stein erst ins Rollen, ist alles zu spät“, prophezeit Günther.

Bei so viel Nachgiebigkeit des Untergrunds scheint das Thema seit den Schlammlawinen von Taiwan und dem Erdrutsch von Nachterstedt europaweit eine neue Nachdenklichkeit auszulösen. Der einfachen physikalischen Wahrheit, dass der Berg immer den Drang hat, ins Tal zu stürzen, kann sich niemand entziehen. Geologe Karl Mayer aus München bringt es auf den Punkt: „Tut man nichts, verändert sich alles.“

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