: In der Stille ist der Gehörlose König
Die Rendsburger Ausstellung „Schattensprache“ führt in eine Welt ohne Geräusche. Besucher können erfahren, wie schwierig es ist, ohne Worte eine Cola zu bestellen. Am Ende gibt es eine Lektion in Gebärdensprache. Kopfhörer vertauschen die Vorzeichen zwischen Behinderten und Nicht-Behinderten
VON ESTHER GEIßLINGER
Das Café heißt Spürbar und sieht aus, wie solche Cafés aussehen: weiß und orange, angefüllt mit schönen jungen Menschen. Nur eines ist anders: die Stille. Kein Handy schrillt, keine Musik dröhnt aus Lautsprechern. Jan Fischer steht am Tresen und dreht die geballten Hände wie zwei Mühlräder übereinander: Einen Kaffee, bitte. Die Bedienung zieht an imaginären Zitzen: Milch dazu? Die Frau ist gehörlos, Fischer nicht, und von Gebärdensprache hat er eigentlich auch keine Ahnung. Aber der Berufsschullehrer hat gerade mit seiner Klasse die Ausstellung „Schattensprache“ besucht, und nach dem Rundgang durch eine Welt der Stille, in der nur Finger und Gesichter sprechen, scheint es fast normal, einen Kaffee mit den Händen zu bestellen.
Fast: Denn in der Spürbar prallt die Kunstwelt der Ausstellung auf den Alltag, und eben da wird – nun ja, spürbar, was es heißt, gehörlos in einem Café zu sitzen. Fällt irgendwo ein Glas, knallt eine Tür? Gibt es lauten Streit? Nur wer ständig Augenkontakt hält, bekommt die Umwelt mit. „Man merkt das erst jetzt so richtig“, sagt Franziska Möller. Die 21-jährige angehende Bürokauffrau hat sich schon immer für die Gebärdensprache interessiert, und in der Spürbar übt sie zu bestellen: Wein ist eine Geste, als würde ein Glas an den Mund gehoben, Sprite und Cola müssen mit den Fingern buchstabiert werden.
„Schattensprache“ wurde Anfang des Jahres als Dauerausstellung im Provianthaus in Rendsburg eröffnet. Sie ähnelt dem „Dialog im Dunkeln“ in Hamburg, wo Sehende sich, geführt von Blinden, durch die Dunkelheit bewegen. Hinter der Rendsburger Ausstellung steht derselbe Erfinder, Andreas Heinecke, Geschäftsführer der Ausstellungs-GmbH Consens. Ko-Autorin war Orna Cohen. Unterstützt wird das Projekt von Ulrich Haase, Landesbeauftragter für Menschen mit Behinderungen, der selbst gehörlos ist.
„Es läuft schon richtig toll“, sagt Maike Baumgärtel, die Sprecherin der Ausstellung. Zurzeit ist Schattensprache am Wochenende beschränkt geöffnet, das soll sich aber ändern. „Wir freuen uns über den Andrang, doch für die Besucher ist es manchmal ärgerlich, weil sie warten müssen“, sagt Baumgärtel.
Denn nur in Gruppen geht es in die Räume, jede wird geführt von einem Gehörlosen. Zu ihnen zählt Lukas Kollien, ein schlanker junger Mann mit dunklem Haar und blitzenden Augen. Mit der Eleganz eines Pantomimen gibt er Anweisungen, lobt die Gruppe mit hochgereckten Daumen und fordert seinen Applaus mit ein paar Gesten: Nicht klatschen, das höre ich doch nicht – ihr müsst mit ausgestreckten Fingern winken, Danke schön. In der Stille ist der Gehörlose König. Auch das ist ein Ziel der Ausstellung: Vorurteile abzubauen, die Vorzeichen umzudrehen zwischen „behindert“ und „nicht behindert“.
Mit Kopfhörern sperren die Besucher die Geräusche aus. Stille, nur das Blut rauscht in den Ohren. In Paris, wo es eine ähnliche Ausstellung gab, seien Leute umgekippt, weil mit dem Gehör der Gleichgewichtssinn schwindet, sagt Baumgärtel: „Das ist uns zum Glück noch nicht passiert.“
Lukas Kollien führt seine Gruppe in einen dunklen Raum, in dem ein runder Leuchttisch steht. Hier geht es um die Hände und ihre Beweglichkeit. Schattenvögel fliegen über die Leuchtplatte, Schattentiere verfolgen einander. Der zweite Raum bietet eine Lektion in Mimik: Seht wütend aus – seht erstaunt aus. Reagiert auf Fotos: einen knurrender Hund, ein Liebespaar. In jedem Raum werden die Aufgaben schwieriger: Zeigt Müdigkeit. Spielt eine Szene so, dass die anderen erkennen, welchen Gegenstand ihr braucht. Ratet, welche Geste für welchen Körperteil steht. Lernt, über eure Grenzen hinwegzudenken. Zuletzt gibt es Lektionen in Gebärdensprache: danke, bitte, ja, nein. Zwei Finger trippeln wie Füße über die ausgestreckte Handfläche: Wie geht’s? Der Zeigefinger bildet einen Kreis über dem Daumen: gut.
Am Ausgang nimmt Franziska Möller einen Zettel mit dem Gebärdenalphabet mit, vielleicht macht sie noch einen Anlauf, die Sprache der Hände zu lernen. Lehrer Fischer ist jedenfalls beeindruckt. Nicht er hat den Besuch vorgeschlagen, die Klasse selbst wollte ihn. In den Unterrichtsplan passe das Thema auf jeden Fall – nicht, weil es um Behinderung, sondern weil es um Kommunikation gehe.
Am Empfangsschalter bespricht Kollien mit einem Kollegen die Dienstpläne: Nimmst du die Gruppe, und ich die? Okay, alles klar. Lässige, schnelle Gesten, und gar nicht schwer zu verstehen, wenn man nur hinschaut. Die Ohren hätten weniger verraten: Eine Kaffeemaschine übertönt jedes Geräusch.
Die Ausstellung im Rendsburger Provianthaus, Provianthausstraße, ist montags bis mittwochs sowie freitags von 9 bis 17 Uhr geöffnet, donnerstags von 9 bis 20 Uhr und samstags von 13 bis 18 Uhr. Informationen unter www.schattensprache.de oder ☎ 04331 / 77 00 50
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen