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„Tuvia, du bringst mich um“

LEIDENSCHAFT Tuvia Tenenbom, Leiter des jüdischen Theaters in New York, schafft es, noch die dunkelste Seite einer Seele zum Sprechen zu bringen

Für die Palästinenser empfindet er Zuneigung, vor den Siedlern Respekt

VON SUSANNE KNAUL

Tuvia Tenenbom ist keine graue Maus. Der schwergewichtige, faltenlose, rotblonde Amerikaner redet unentwegt. Er ist offen, distanzlos und kann einen nerven. Wir fahren mit dem Journalistenbus auf den Golan. Tenenbom steigt immer als Letzter ein. Die Pinkelpause nutzt er zum Rauchen, und erst, wenn alle anderen wieder weiterfahren wollen, geht er zum Klo. Er raucht, was ihm unter die Finger kommt, am liebsten Lucky Strikes. Mit Menthol. Tenenbom riecht nach kaltem Rauch. Und er isst viel. Gefillten Fisch, gehackte Leber und Rogerlach, ölige Schokoladenhörnchen. „Ich bin hier noch fetter geworden.“

Tenenbom ist der Direktor des Jüdischen Theaters in New York, aber er schreibt auch. Auf den Golan reist der 56-Jährige, dessen Vorfahren aus Israel sind, um für sein neues Buch zu recherchieren. „Allein unter Juden“ soll es heißen. Es ist eine Art Fortsetzung zu seinem Buch „Allein unter Deutschen“, mit dem er Schlagzeilen machte, bevor es veröffentlicht wurde. Der Berliner Rowohlt-Verlag hatte das Buch bestellt und dann nicht gedruckt. Aus dem gepriesenen Spitzentitel „mit einer wunderbaren Beobachtungsgabe und viel schwarzem Humor“ wurde laut Rowohlt-Gutachter ein „verletzender und unseriöser“ Text.

Die Deutschen kommen nicht gut weg bei Tenenbom. Sie seien „antisemitisch und rassistisch bis ins Mark“, schrieb er.

Der Suhrkamp-Verlag freute sich, sammelte die Scherben des Gezeters auf, veröffentlichte die „eigenwillig zugespitzte Reportage“ und druckt nun auch Tenenboms Werk über die Juden. Und über die Palästinenser. „Ich bin viel öfter nach Palästina gefahren, als ich es geplant hatte“, meint er. Tenenbom plant eben nicht, er fährt los. „Ich gehe raus, 18 Stunden am Tag, immer zu Fuß oder mit dem Bus“, sagt er und lässt sich von seiner Frau Isi einen schwarzen, gezuckerten Kaffee machen. Sie ist sein Gegenteil: leise, bescheiden, sympathisch. Seit zehn Jahren ist das Paar verheiratet. Kennengelernt haben sie sich bei einem Interview, das sie, die deutsch ist, für eine neuseeländische Zeitung führte. Isi ist fast immer dabei auf den ermüdenden Odysseen ihres Mannes. „You kill me, Tuvia“, sagt sie mit breitem Akzent, wenn er weiterdrängt.

Tenenbom ist ein „Workaholic“ und das schillernde Auftreten sein wichtigstes Arbeitskapital. Er geht auf Tuchfühlung mit den Menschen, über die er schreibt, egal ob er afrikanische Flüchtlinge trifft, Beduinen, Prostituierte, Rabbiner oder Mönche. Mit Jibril Rajoub, einst Chef der Geheimpolizei im Westjordanland ist er sofort gut Freund. Rajoub nennt ihn Abu Ali und nimmt ihn mit auf seinen Trimmpfad. Das kommt Tenenbom, der eine Sportkolumne für Zeit Online schreibt, gerade recht. „Fett wie ein Turnschuh“ heißt sie, und es geht ums Abspecken. Was Rajoub nicht weiß: Tenenbom ist Jude. Vorgestellt hat er sich bei ihm als „Tobi aus Deutschland“.

So hat er es auch in Deutschland gemacht. Dort war er „Tobias, der reinrassige Arier“, wenn er mit Neonazis über die „Lügen von Auschwitz“ plauderte. Er mache sich die Tricks des Schauspielers zunutze, gebe sich naiv, unwissend und kumpelhaft, damit die, die er interviewt, freizügig das letzte Detail ihrer dunklen Seele enthüllen. „I can speak anything you want“, sagt er und plaudert gleich fröhlich auf Jiddisch los. Sein Englisch ist israelisch gefärbt, und sein Hebräisch das des ultraorthodoxen Sektors. Slang geht ihm ab. „Es ist so leicht, die Leute zu täuschen“, sagt er.

Neugier und das Gefühl, dass es nie genug ist, treiben Tenenbom an. Als Kind, so erzählt er, habe ihm sein Vater eine Taschenlampe geschenkt. Anstatt die Wand anzustrahlen, habe er sie aufgebrochen, „weil ich gucken wollte, wo der Mann mit dem Streichholz sitzt“. Mit drei Jahren kam er, wie alle anderen Jungen der ultraorthodoxen Gemeinde, in die Schule. Der kleine Tuvia wächst unter den Frommsten der Frommen auf, im „Vatikanstaat der Orthodoxen“, wie er die Stadt Bnei Brak nennt.

Er liebte das Studium der frommen Texte und wollte wie sein Vater Rabbiner werden. „Ich haben morgens das Licht in der Jeschiwa angeschaltet und bin abends als Letzter wieder raus.“ Mit 14 wird er als Lehrer eingesetzt und unterrichtet Jungen, die fünf Jahre älter sind als er. Er weiß es besser als sie, und bald weiß er es besser als der Rabbiner. Er streitet, fliegt raus, geht nach Jerusalem, streitet und fliegt wieder raus. „Was sie uns beibringen wollten, hatte nichts mit dem Judentum zu tun“, sagt er und erklärt: „Die talmudischen Rabbiner liebten den Sex, uns aber war er verboten.“

Seine Mutter, Überlebende eines KZ, habe geweint, als er sich an einer weltlichen Uni einschrieb. „Ich hätte ihr genauso sagen können, dass ich jetzt Strichjunge auf der 42nd Street werde.“ Deshalb habe er gehen müssen, weg von der Familie, weg aus Israel, weg vom frommen Judentum. „Als ich Israel verließ, waren die Pajes schon ein wenig kürzer.“ Pajes sind die Schläfenlocken. „Ich wollte für mich selbst denken, ich war Rechter und Linker, ich war Extremist und Zentrist, aber egal wo ich war, ich merkte immer, dass es keine echte Freiheit zum Denken gab.“ Selbst die liberale Welt bestrafe die Andersdenkenden. „Kritisiere einen Menschenrechtsaktivisten, und aus ist es mit der Freundschaft.“

Er streitet, fliegt raus, geht nach Jerusalem, streitet und fliegt wieder raus

Genau diese Schöndenker und Weltverbesserer hat Tenenbom gefressen. „Die Europäer, die früher nach Israel kamen, lagen am Strand und sonnten sich“, sagt er und hebt langsam die Stimme. Heute aber seien junge Europäer angetrieben von der Idee, Israelis dabei zu erwischen, wie sie Palästinensern Böses tun.

Ähnlich wie in Deutschland, wo er zwar „keineswegs auf der Suche nach den Antisemiten“ gewesen sei, wie er beteuert, sie ihm aber doch ständig über den Weg liefen, trifft Tenenbom in Israel immer wieder auf die antisemitischen Europäer und auf die jüdischen Selbsthasser. Selbst in Jad Vaschem lauscht er einem israelischen „Guide mit dem Namen Itamar“, der einschränke, dass die Ausstellung in der Holocaustgedenkstätte „lediglich die jüdische Perspektive“ zeige, was nicht heißen müsse, dass „das hier der Wahrheit entspricht“, zitiert er und resümiert: „Nimm die toten Juden und gib’s ihnen“, „stick it to them“.

Schon lässt sich ahnen, wohin die Reise geht in Tenenboms „Allein unter Juden“. Er wettert gegen das Rote Kreuz und noch lauter gegen die EU, die Millionen Euros in die NGOs steckt. Er flucht und lärmt. Man will ihm seinen Widerwillen gegen die „Heuchler, die herkommen, um Moral zu lehren“, gern glauben. In der Schweiz dürfte es keine Muezzins mehr geben, „die wollen mir erklären, wie man mit Muslimen umgeht? Geht nach Hause und macht Schokolade.“ Er verliert die Proportionen aus den Augen, sieht nur den faulen Apfel im Korb, hört den falschen Akkord in einem gelungenen Konzert und gräbt immer dort weiter, wo alle anderen fünfe gerade sein ließen. Das ist seine Schwäche und Stärke zugleich.

„Ich bin weder Provokateur noch Aktivist“, weist er den Vorwurf der Einseitigkeit von sich. „Ich beobachte und schreibe auf, was ich sehe.“ Seine Vorurteile beiseitezulegen, wie er es sich vor jeder Recherche vornimmt, gelingt ihm nur bei den „Locals“. Wenn er über die Beduinen spricht, wird seine Stimme sanft. Für die Palästinenser empfindet er Zuneigung und vor den Siedlern Respekt. „Ich mag die Araber mehr als die Juden“, sagt er, denn „sie sind gastfreundlich und stolz, keine Selbsthasser, wie die Israelis.“ Wer sich selbst nicht liebt, könne auch keinen anderen lieben.

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