: Am Pult kann nur einer stehen
Lob des „aufgeklärten Frontalunterrichts“: Wer Lehrer aufs bloße Moderieren reduziert, übergeht die Ergebnisse der Lernforschung. Pädagogen sind für Schüler Steuerungsinstanz und unersetzbares Beziehungsgegenüber. Sie sollen wie Kerzen sein – Entwicklungswege beleuchten und dabei wärmen
VON MICHAEL FELTEN
Kunst ist schön, macht aber viel Arbeit, hat Karl Valentin gesagt. Pisa ist wichtig, ließe sich fortfahren, wirft aber mindestens so viele Fragen auf, wie es zu beantworten scheint. Warum etwa sind finnische Schüler spitze? Weil sie Gesamtschulen besuchen – oder weil sie dort vorwiegend Frontalunterricht erleben? Weil Filme im Land der tausend Seen häufig nicht synchronisiert sind, also frühes Lesen nötig machen – oder weil es dort wenige Migranten gibt?
Und warum waren bayerische Fünfzehnjährige bei Pisa 2000 Schülern im Rheinland um bis zu zwei Jahre voraus? Weil es dort ein gegliedertes Schulsystem gibt? Weil die Klassenarbeiten schwerer sind – oder weil die Familienstruktur im Alpenvorland vergleichsweise intakter ist?
Schulleistungsstudien wie Pisa haben viel bewirkt. In der Bildungsfrage werden neuerdings nicht nur Meinungen gehandelt, sondern auch Fakten. Hinzu kommt, dass Leistung in der Schule kein Tabu mehr ist. Es gibt einen neuen Konsens darüber, dass auch schon Kinder etwas leisten wollen. Aber die Jahr für Jahr auf uns herabrieselnden Bildungsdaten führen uns auf die falsche Fährte. Sie machen uns glauben, wir erhielten Einblick in Kausalzusammenhänge.
Auch für Pisa und andere Studien gilt jedoch das bekannte Storchendilemma: Mag es noch so viele Häuser mit Neugeborenen geben, auf denen ein Storchennest thront, es käme doch niemand auf die Idee, zu behaupten, der Storch brächte die Kinder. Was heißt das? Womöglich haben gleichzeitig auftretende Phänomene gar nichts miteinander zu tun, vielleicht existiert etwas Drittes, oder es gibt gar mehrere Bedingungsfaktoren.
Verlässliche Aussagen darüber, welche Lernumstände sich lernfördernd auswirken, erfordern extrem aufwendige Auswertungen, sogenannte multivariate Regressionsanalysen. Für die Mathematikstudie TIMSS (1996) liegen diese vor – und ihr Resümee lässt aufhorchen. Positive Leistungsbilanzen sind danach keine zwangsläufige Folge von integrierten Schulsystemen oder höheren Bildungsausgaben. Es kommt wesentlich darauf an, inwieweit Lernen gesamtgesellschaftlich mit Wertschätzung bedacht wird. Es ist also ungemein wichtig, ob Eltern sich für das Schulleben ihrer Kinder interessieren und die Anstrengung des Lernens bejahen; ob Lehrer motivierend und anspruchsvoll unterrichten; ob Schulen über Unterstützungssysteme verfügen, die es Lehrern leichtmachen, auf individuelle Befähigungen ihrer Schüler einzugehen.
Als zentrale Variable für Lernerfolg erweist sich immer mehr die Unterrichtsqualität. Nur was ist guter Unterricht? Die Geschichte der Lerntheorien präsentiert sich als Reigen von Fortschritten und Irrtümern. Der Nürnberger Trichter etwa, beliebte Metapher für ein überholtes (weil passives) Bild vom Lernen, hatte durchaus etwas Aufklärerisches – um das Jahr 1600 herum: dass es nämlich möglich sei, auch dem Dümmsten etwas einzutrichtern. Umgekehrt erfuhr die Euphorie über offene Unterrichtsformen und weitgehende Selbstständigkeit beim Lernen in unseren Tagen einen herben Dämpfer: Von dieser Methodik profitieren gerade leistungsstarke Mittelschichtskinder, schwächere Schüler hingegen verstört sie eher. Dabei ist das Wissen um lernförderliche Bedingungen dank der empirischen Unterrichtsforschung mittlerweile sehr solide.
Schon um 1990 hatte die Scholastik-Studie (ein Vorläufer von Pisa) offenbart, dass der Lernfortschritt von Grundschülern weitaus stärker von der Qualität ihrer Kenntnisse aus dem letzten Jahr bestimmt wird als von der Art des aktuell erteilten Unterrichts. Die Videostudien zu TIMSS zeigten, dass die leistungsstarken Achtklässler in Japan keineswegs zurückhaltende Lehrer hatten: Diese steuerten den Unterricht äußerst aktiv und zielten dabei auf hohe Aktivität der Schüler. Sie machten anspruchsvollen, abwechslungsreichen, aber keineswegs offenen Unterricht. Das Einzige, was hier offen war, waren die Aufgaben: Problemstellungen, die Lösungen auf verschiedenen Niveaus zuließen. Von der gemeinsamen (und disziplinierten!) Auseinandersetzung darüber profitierte dann die gesamte Lerngruppe.
Ende der Neunzigerjahre wurde es gar offiziell: Die Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung ließ offiziell verlauten: „Unterrichtsstudien belegen die Lernwirksamkeit und häufig die Überlegenheit eines anspruchsvollen lehrergesteuerten, störungspräventiven, aufgabenorientierten und klar strukturierten Unterrichts (!) mit gemäßigtem Interaktionstempo.“ Das muss man nicht als Freibrief für stundenlange Lehrermonologe missverstehen. Aber es rehabilitiert den „aufgeklärten Frontalunterricht“, im Fachjargon die „direkte Instruktion“: eindeutige Anforderungen, verständliche Erklärungen, spannend erzählte Einführungen, viel Echo auf Schülerbeiträge, geduldiges Warten auf Schülerantworten, intelligentes (will sagen: mannigfaltiges) Üben.
Grundsätzlich hat sich gezeigt: Verschiedene Wege führen nach Rom. Das Gebot der Stunde scheint der Methodenmix zu sein: Entscheidend ist, dass sich Schüler möglichst vielfältig und intensiv mit dem Lernstoff beschäftigen und dass Lehrer jede Gelegenheit zu ihrer Aktivierung und Ermutigung nutzen. Leistungsfördernd ist dabei nicht zuletzt die richtige Atmosphäre: Fehlerfreundlichkeit ist etwa eines ihrer (noch nicht allzu verbreiteten) Merkmale – was nicht bedeutet, zu jeder Gedankenlosigkeit Ja zu sagen, sondern Fehler interessant zu finden, weil sie eine Erkenntnisquelle darstellen. Lehrer sind also mehr als Moderatoren: nämlich wichtige Steuerungsinstanz ebenso wie unersetzliches Beziehungsgegenüber. Nicht umsonst nennt man sie in Finnland nicht „faule Säcke“, sondern „Kerzen des Volkes“: Sie beleuchten Entwicklungswege – und wärmen dabei.
„Guter Unterricht = lehrerzentriert + schülerorientiert“ – hätte das nicht auch der Großvater sagen können? Heute müssen wir uns den guten Lehrer freundlich, dialogbereit und differenziert vorstellen – aber eben auch entschieden und selbstbewusst.
Allerdings bleiben Äpfel und Birnen zu unterscheiden: Was in einem Fach besonders förderlich ist, kann im anderen eine untergeordnete Rolle spielen. Die Videostudien von Desi zeigten, dass es für den Englischunterricht weniger auf klare Strukturierung oder hinreichend komplexe Lehrerfragen ankommt (wie in Mathematik), sondern vielmehr auf einen hohen Sprechanteil der Schüler. Auch das jüngste Presseecho über Pisa-I Plus machte deutlich, wie wichtig Differenziertheit ist: Angeblich hat sich dabei der „aktive“ Lehrertyp (er arbeitet gerne mit Kollegen zusammen und beteiligt sich an Evaluation) als dreimal so erfolgreich erwiesen wie der „disziplinorientierte“ (mag leistungsbetontes Lernklima und effektive Zeitnutzung). Glaubt man der Studie, dann trifft dies aber höchstens für die Naturwissenschaften zu. In Mathematik dagegen sind „aktive“ und „disziplinorientierte“ Lehrer gleichermaßen erfolgreich. Was wäre erst, wenn beide Merkmale zusammenkämen?
Auch bei den Methoden gilt es, die Spreu vom Weizen zu trennen. Schülerorientierung etwa, das bedeutet gewiss auch Individualisierung. Leichtlerner haben durchaus ein Recht auf besondere Förderung, Mutlosen gegenüber besteht geradezu die Verpflichtung zu spezifischer Unterstützung. Aber wehe der Maßlosigkeit! Wenn Schüler nur noch ihr persönliches Werkstattblatt bearbeiten und ihre individuellen Hausaufgaben machen würden, wenn sie nicht mehr lernen müssten, sich gemeinsam auseinanderzusetzen und sich dabei in ihrer Vielfalt zu bereichern, dann hätte der Egoismus gegenüber dem Sozialen erheblich an Terrain gewonnen. Schule sollte aber kein Abbild des Kapitalismus sei, sondern möglichst humaner Entwicklungsort. Deshalb bleibt das Erleben von Resonanz und Kooperation im Unterricht ein Maßstab auch für Lernmethoden. Japanische Schüler hören sich viel gegenseitig zu, südkoreanische rezitieren wichtige Sachverhalte oft im Chor.
Wie können, sollen Lehrer lehren? In unregelmäßiger Folge diskutieren Pädagogen in der taz die neue Praxis der Lernens. Frank Nonnenmacher schrieb über den „Lehrer, Sisyphos der Schule“ (3. 1. 2007). Michael Felten ist Gymnasiallehrer und verfasst Erziehungsratgeber. Es folgen Beiträge zum Aufgabenstellen und die Ethnologie der Klasse.
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