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„Oh Gott, ich hasse solche offenen Fragen“

IDENTITÄT Christine Preißmann ist Ärztin, Therapeutin, Autorin und Autistin. Sie hat das Asperger-Syndrom. Wann ein Mensch „süß“ ist, weiß sie nicht. Aber sie sieht gern drei Stunden am Stück Flugzeugen beim Landen zu

Christine Preißmann

■ wurde 1970 in Südhessen geboren. Sie ist Allgemeinärztin und Psychotherapeutin, hat in Frankfurt und kurz in Uganda studiert. Als sie 27 war, wurde bei ihr das Asperger-Syndrom, eine milde Form des Autismus, diagnostiziert. Sie begann, Vorträge über Autismus zu halten und Bücher darüber zu schreiben. Zuletzt sind von Christine Preißmann „Asperger – Leben in zwei Welten“ und „Überraschend anders: Mädchen & Frauen mit Asperger“ erschienen.

GESPRÄCH WALTRAUD SCHWAB FOTO LIA DARJES

Der verwaiste Frühstücksraum eines Best Western Hotels in Berlin. Stühle, akkurat an die Kanten der Tische gestellt. Darauf Töpfe mit roten Plastikblumen. Es ist eine reizarme Umgebung: für Christine Preißmann kein Schaden. Auch will sie keinen Smalltalk zum Aufwärmen. „Das bringt mir nichts“, sagt sie.

sonntaz: Frau Preißmann, Sie sind Ärztin, Buchautorin und Autistin. Was noch?

Christine Preißmann: Ach, ich glaube, das reicht.

Haben Sie keine anderen sozialen Rollen inne?

Tochter bin ich natürlich.

Auch Einzelgängerin?

Ja, Einzelgängertum gehört zum Autismus dazu. Obwohl die meisten Autisten sich Gesellschaft wünschen, sich Freunde wünschen, vielleicht sogar einen Partner, aber es gelingt uns halt sehr schlecht.

Gilt das tatsächlich für Sie auch, obwohl Sie das Asperger-Syndrom, eine milde Form des Autismus, haben?

Ja. Es fällt uns schwer, auf andere Menschen zuzugehen und in Kontakt zu bleiben.

Wo unterscheiden sich Autismus und Asperger?

Man spricht von Autismusspektrum-Störungen, um zu verdeutlichen, dass die Symptome breit gefächert sind. Auf der einen Seite der frühkindliche Autismus, der Mehrfachbehinderung nach sich zieht, auch geistige Behinderung. Und auf der anderen Seite das Asperger-Syndrom. Beides mit fließendem Übergang. Meist wird das Asperger-Syndrom als mildere Form angesehen, aber oft leiden die Betroffenen nicht weniger.

Warum?

Weil wir an der Normalität gemessen werden. Stark betroffenen Autisten sieht man die Behinderung eher an und denen gesteht man einiges zu, was man uns nicht zugesteht.

Sie leiden an der Normalität, weil Sie sich anpassen sollen?

Viele Aspergerleute, also autistische Menschen mit höherer Intelligenz, merken, dass sie Erwartungen nicht erfüllen können. Das macht den Leidensdruck aus. Viele werden depressiv. Weil das Asperger-Syndrom einen fließenden Übergang in die Normalität hat, wird die Diagnose auch oft erst sehr spät gestellt.

Wie alt waren Sie, als Sie die Diagnose bekamen?

Siebenundzwanzig. Als ich Kind war, waren die Kenntnisse über das Asperger-Syndrom nicht so da. Asperger war ein österreichischer Kinderarzt. Erst als seine Beobachtungen vor 15 Jahren oder so in der englischen Fachliteratur auftauchten, hat man das ernst genommen. Aber Sie haben vorher gefragt, was Autismus und das Asperger-Syndrom unterscheidet, und das habe ich noch nicht beantwortet. Einmal die Intelligenz. Beim Asperger-Syndrom hat man mindestens eine normale Intelligenz. Und meist auch eine bessere Sprachentwicklung und Ausdrucksfähigkeit. Wir haben dagegen größere motorische Probleme als die frühkindlichen Autisten.

Woher kommt das?

Man weiß es noch nicht wirklich.

Asperger kommt einem wie eine Modediagnose vor.

Es wird in letzter Zeit häufig diagnostiziert. Ich glaube aber nicht, dass die Erkrankungsfälle zunehmen, sondern die Sensibilität für diese Behinderung. Immerhin geht man von 500.000 bis 800.000 Betroffenen in Deutschland aus.

Das müsste doch auffallen, wenn es so viele sind.

Das fiel auch auf. Früher waren das Leute, die oft als „Dorftrottel“ bezeichnet wurden. Ich bin in einer Kleinstadt, in Dieburg bei Darmstadt, groß geworden und da hat man schon immer gesagt, guck mal, der ist so komisch, und einige der Komischen, der Wunderlichen, bekommen heute die Diagnose Asperger-Syndrom. Früher waren das die, die immer aufgezogen wurden.

Sie haben erlebt, wie es ist, wenn die anderen einen für wunderlich halten?

Mir wurde oft gesagt, du bist so komisch, und stell dich nicht so an, und wenn du dich mehr anstrengen würdest, ginge es dir besser. Man hat das auf Unvermögen oder fehlenden Willen geschoben und das war frustrierend und entmutigend.

Hat niemand je gedacht: Das Kind muss man schützen?

Wenige. Das hätte ich mir sehr gewünscht, dass die Lehrer öfters nachgefragt hätten, wenn ich etwas missverstanden habe. Schwierige Verhaltensweisen kommen oft durch Missverständnisse. Bei mir sind das meist sprachliche Missverständnisse. Ich verstehe alles sehr wörtlich. In der Schule sagte einmal eine Klassenkameradin, das Federmäppchen müsste man in den Müll werfen, der Reißverschluss hakt. Dann habe ich es halt genommen und in den Mülleimer geworfen, ich dachte, sie will das so. Dafür habe ich einen Klassenbucheintrag bekommen. Da hätte ich mir gewünscht, der Lehrer wäre zu mir gekommen und hätte gefragt: Wie kommste denn auf so ’ne Idee?

Sind das die Dinge, an denen Sie schon als Kind verzweifelt sind?

Ich bin als Kind gar nicht so verzweifelt. Ich hatte meine Eltern, meine Brüder. Auch wenn ich sonst Außenseiterin war, nicht integriert war bei den anderen Kindern. Die merkten, dass ich anders war und dass man mit mir nicht wirklich spielen konnte. Ich wollte meine Spiele zu meinen Regeln durchdrücken. Ich hatte damals ein uraltes, abgegriffenes Memory, ich konnte das tausendmal am Tag spielen. Meinen Eltern muss das zu den Ohren rausgekommen sein.

Das heißt: Immer etwas wiederholen, das man kennt.

Genau. Bloß nichts Neues. Und das Bekannte auch immer gleich. Der gleiche Ablauf, der gleiche Tisch, wo das Spiel draufliegt, das kann man mit Klassenkameraden nicht so machen. Aber damals habe ich nicht so darunter gelitten, dass ich abseits stand, das kam eigentlich erst später.

Wann?

In den höheren Klassen wurden die Unterschiede deutlicher. Wenn die anderen Mädchen sich über Mode, Kosmetik, Jungs unterhalten haben und ich überlegt habe, wohin die Lufthansa beim nächsten Flugplan fliegt.

Kennen Sie den Flugplan auswendig?

Ich kannte ihn damals auswendig und habe mich jedes Halbjahr gefreut, wenn ein neuer rauskam. Das war so, worüber ich mir Gedanken machte in der Pause oder wenn ich Zeit hatte.

Was war ausschlaggebend, dass dann doch jemand auf die Idee kam, mal zu gucken, was hinter Ihrer Andersartigkeit steckt?

Ich hatte eine schwere depressive Phase gegen Ende des Studiums, als ich realisierte, dass die anderen alle Freunde haben. Die Kommilitonen waren in Gruppen, hatten Partnerschaften, einige hatten auch Kinder. Das war die Zeit, wo bei mir der Leidensdruck ganz stark wurde. Weil ich immer depressiver wurde, habe ich eine Psychotherapeutin gesucht. Ich hatte Glück, sie kannte sich mit Autismus aus.

Sind Sie vorher nie darauf gekommen, obwohl Sie Medizin studiert haben?

Nicht wirklich. Man kriegt das ja erst am Ende des Studiums so ein wenig mit. Zu dem Zeitpunkt war meine Therapeutin schon so weit, dass sie eine autistische Störung bei mir vermutete.

Wenn Sie durch die Stadt gehen, erkennen Sie Leute, die Asperger haben?

Manchmal schon.

Woran?

Auffällig ist oft eine soziale Ungeschicklichkeit, Schüchternheit, Verlegenheit, gerade bei Frauen. Wir haben Schwierigkeiten im Kontakt – einmal in Hinblick auf Sprache, dass wir Übertragenes wörtlich verstehen, dann aber auch, dass wir Mimik und Gestik nicht deuten, Blickkontakt nicht halten können. Das merken Sie ja auch, dass ich Blickkontakt nur kurz halten kann.

Was löst Blickkontakt aus?

Er bringt mir nichts. Ich konzentriere mich dann nur noch auf die Augen und kriege das Drumherum nicht mehr mit. Viele Menschen lesen in den Augen, aber das fällt uns sehr schwer.

Mich irritiert umgekehrt, dass Sie mich nicht angucken. Ich interpretiere das.

Ja, auf Schüchternheit, Unsicherheit wird das oft geschoben. Gut, wir sind auch oft unsicher. Übrigens der dritte Punkt, der mit dem Asperger-Syndrom in Zusammenhang gebracht wird, um auf Ihre Frage von vorhin zurückzukommen, sind die Interessen. Die meisten Autisten haben ein spezielles Interessengebiet. Oft technische Dinge. Ich kannte mal einen, der hat sich ganz auf Lautsprecher eingeschossen. Er war mal auf ’nem großen Vortrag. Und während andere den Vortragenden fotografierten, turnte er mit seiner Kamera immer um die Lautsprecher herum und fotografierte diese. Ich fand das toll, der Referent fand es merkwürdig.

Also leben Aspergerleute wie in zwei Welten – der der anderen und der eigenen?

Ja.

Wie muss man sich das Zusammenspiel dieser zwei Welten vorstellen?

Ich erkläre es immer an dem Beispiel Arbeit und Freizeit. Ich arbeite als Ärztin. Aber im Alltag brauche ich Unterstützung bei ganz selbstverständlichen Dingen. Wie rasiere ich meine Beine? Wie schminke ich mich? Dinge halt, die andere in der Pubertät mit ihren Freundinnen ausprobieren, das fehlt uns.

Über Anleitungen in Frauenzeitschriften können Sie sich das nicht erarbeiten?

Theoretisch habe ich das schon drauf. Ich konnte meiner Ergotherapeutin sagen, wie sie ihre Pickel am besten abdecken kann. Mit Grün nämlich, weil das die Komplementärfarbe zu Rot ist. Das fand sie eigentlich ganz lustig; sie sagte: Jetzt habe ich von Ihnen genauso viel gelernt, wie Sie von mir. Aber so das Praktische ist es, was fehlt. Einfach mal Zuschauen und Nachmachen, das geht nicht.

Wie lernen Sie dann Dinge?

Übers Kognitive, übers Auswendiglernen. Ich habe mir Hunderte Sprichwörter und Redewendungen einfach so reingepaukt, weil sie mir nicht auf Anhieb eingängig sind. Alles, was man nicht intuitiv weiß, muss man übers Gehirn lernen, wenn das geht.

Da gibt es schöne Anekdoten mit dieser Sprichwortmissversteherei. Einmal seien Sie auf einer Konferenz in einer Kleinstadt gewesen und eine Kollegin sagte, dass im Ort nachts die Bürgersteige hochgeklappt werden. Haben Sie das wirklich geglaubt?

Ja, ich war ganz beunruhigt. Ich habe meinen Bruder angerufen, denn es passierte dann doch nichts und es war mir wirklich nicht klar, was das jetzt mit den Bürgersteigen auf sich hat. Ich habe ihn gefragt: Sag mal, kennst du Bürgersteige, die man hochklappen kann? Er hat mir das erklärt, und dann haben wir eine Weile gelacht. Hinterher kann ich schon darüber lachen.

Wie rufen Sie die Zweideutigkeit von auswendig gelernten Sprichwörtern in der gesprochenen Situation denn ab?

Das geht schon, wenn es exakt die gelernten Sprichwörter sind. Aber es kommen immer wieder neue Sprichwörter, die ich noch nie gehört habe. Dann wird es schwierig, weil ich nicht weiß, wann etwas wörtlich und wann etwas übertragen zu verstehen ist. Genau das muss man vermitteln, auch den Lehrern, dass sie Autisten einen Zusammenhang sehr präzise, sehr klar erklären müssen und dass wir eben durch Imitation nichts lernen, sondern uns alles kognitiv erarbeiten müssen.

Ist es nicht wahnsinnig anstrengend, ja bloß irgendwie zu verstehen, was die Mehrheit ohne nachzudenken kapiert?

Es ist sehr anstrengend. Aber ich mache das heute nicht mehr so, dass ich mich unter allen Umständen anpassen will. Früher habe ich das versucht, aber da war ich nicht glücklich. Jetzt genehmige ich mir, gerade in meiner Freizeit, so authentisch wie möglich zu leben.

Authentisch wie möglich heißt wie?

Wenn Kollegen früher fragten: Was hast du am Wochenende gemacht?, habe ich erzählt, was andere auch erzählen. Ich war im Kino, im Theater, habe einen Roman gelesen. Obwohl mir das alles nichts gibt. Dann kamen die Nachfragen. Welcher Film? Welches Buch? Wie hat dir der Hauptdarsteller gefallen? Da kam ich immer mehr in die Bredouille, ja äh. Heute sage ich, ich habe zwei Stunden am Flussufer gesessen und den Enten zugeguckt. Oder ich habe drei Stunden den Flugzeugen beim Landen zugeguckt.

Auch als Sie mal verliebt waren, sind Sie mit dem Partner Flugzeuge beim Landen gucken gegangen, schreiben Sie in einem Buch.

Ja, das war schön. So am Flughafen ist es schön.

Was sind die Stärken von Autisten?

Wir sind sehr ehrlich, offen, zuverlässig. Wenn ich sage um halb sieben, bin ich um halb sieben da.

In Ihren Büchern sind Sie ja auch sehr offen. Sie schreiben über Sexualität bei Asperger, Pubertät, Masturbation, Körpergrenzen zulassen, abwehren – oft ausgehend von Ihren eigenen Erfahrungen.

Ich finde die Offenheit wichtig, nur so kann man deutlich machen, was das Asperger-Syndrom bedeutet. Die Theorie ist das eine, das Leben das andere.

Haben Sie sich für Jungs interessiert in der Pubertät?

Damals nicht. Mir war es ein völliges Rätsel, wie die anderen Mädchen beurteilt haben, ob jemand süß ist oder nicht. Das hat mir so gar nicht eingeleuchtet.

Weil ein Mensch nicht süß sein kann?

Ich wusste nicht, was die Kriterien sind für Süßsein. Und wenn die gesagt haben, guck mal da vorne, der ist doch süß, haben sie das nicht näher beschrieben und ich konnte doch jetzt nicht fragen, wie sie zu dem Urteil kamen.

Sie sind Allgemeinärztin und Psychotherapeutin. Sie arbeiten in der Psychiatrie mit Suchtkranken.

Die Suchtkranken sind auch sehr offen und sagen genau, wie sie die Sachen meinen. Da muss man nicht erst mühsam interpretieren. Und sie profitieren, wie ich, sehr von unserem strukturierten Tagesablauf.

Sie sind also all das: Autorin, Autistin, Ärztin, Tochter. Was sind Sie nicht?

Oh Gott, ich hasse solche offenen Fragen. Mit so was kann ich nicht wirklich was anfangen, weil ich nicht weiß, worauf Sie hinaus wollen.

Aufs Private zum Beispiel. Sind Sie Partnerin? Sind Sie Mutter?

Nein, das bin ich nicht.

Leiden Sie darunter?

Die meisten Autisten leiden darunter. Sicher nicht jede Minute. Ich freue mich manchmal über meine Freiheit, und ich könnte auch nicht so eng mit jemandem zusammenleben. Aber ab und zu hätte ich sehr gern ein Miteinander. Mal für ’ne Stunde mit jemandem zusammen sein. Meinetwegen auch zum Flughafen gehen, die Flugzeuge angucken. Dann aber wieder allein sein.

Sie hätten gerne Kinder gehabt, sich aber dagegen entschieden. Warum?

Kinder sind etwas sehr Schönes. Aber sie hätten mich massiv überfordert, weil sie Struktur und Routine so durcheinander bringen würden. Ohnehin hat sich keine Gelegenheit dazu ergeben. Auch wenn ich das oft wirklich sehr traurig finde.

Macht diese Ehrlichkeit, die Sie in Ihren Büchern und auch in diesem Gespräch zeigen, macht Sie die verwundbar?

Wahrscheinlich ist es so. Ich habe bisher aber keine schlechten Erfahrungen mit Journalisten gemacht. Wer es jedoch ausnutzen will, hätte dazu sicher die Möglichkeit.

Schon komisch, dass Ehrlichkeit verwundbar macht. Sie sagen ja auch, dass Leute mit Asperger nicht lügen können.

Genau, die sind wirklich grundehrlich und die, die ich kenne, sind supernette Menschen. Das ist auch die Abgrenzung zu andern psychiatrischen Diagnosen. Intrigante Menschen können keine Autisten sein.

■  Waltraud Schwab, sonntaz-Redakteurin, liebt das Durcheinander

  Lia Darjes, Fotografin in Hamburg und Berlin, mag Genauigkeit

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