: Exzellenzinitiative aus dem Plattenbau
LABOR Immer öfter bitten Wissenschaftler Bürger um Hilfe beim Mückensammeln und Planetensuchen. Aber Forscher ohne Diplom können weit mehr sein als Hilfskräfte. Eine Reise zu Laien, die die Professoren überholen
■ Für Anfänger: Die Seite citizen-science-germany.de gibt einen Überblick über die Citizen-Science-Bewegung und aktuelle Entwicklungen. Auf buergerschaffenwissen.de sind 30 Initiativen zum Mitmachen nach Thema und Region sortiert. Internationale Projekte von Weltraumforschung bis Philosophie gibt es auf zooniverse.org.
■ Für Fortgeschrittene: Eine Million Dollar Preisgeld bietet das Clay Mathematics Institute für die Lösung eines der sieben ungelösten Probleme der Mathematik. Bisher wurde erst eines geknackt. Die Weltraumagentur Nasa vergibt 1,5 Millionen Euro an Tüftler, die sich mit „revolutionären Ideen“ an ihrem Projekt zur Weiterentwicklung unbemannter Fluggeräte beteiligen.
AUS VELBERT, BIELEFELD UND BERLIN MARIA ROSSBAUER
Das Zentrum eines 5-Millionen-Euro-Forschungsprojekts, an dem Ärzte und Wissenschaftler aus acht Ländern arbeiten, ist der Dachboden einer Doppelhaushälfte auf dem halben Weg zwischen Wuppertal und Essen. Ein winziger Raum, Angelika Klucken und ihr Mann haben Teppichboden verlegt und zwei schmale Schreibtische unter die Dachschräge gequetscht.
Klucken ist Germanistin, ihr Mann Betriebswirt. Aber sie haben ein Projekt mit angestoßen, das die seltene Erkrankung NBIA erforscht, die Nervenzellen im Gehirn zerstört. Von ihrem Dachboden aus treibt Klucken Forschungsgelder ein, hält Kontakt zu einer Medizinprofessorin in Groningen und einem Neurologen in Newcastle, bereitet Vorträge in Paris vor.
In ganz Deutschland gibt es wohl weniger als zwanzig Menschen, die sich so gut mit der Krankheit NBIA auskennen wie Angelika Klucken. Trotzdem schüttelt sie den Kopf, wenn man ihr die Frage stellt, ob sie eine Forscherin sei. „Nein“, sagt sie. Das sei sie nicht. Es ist ein heller Sommermorgen, Angelika Klucken sitzt unter dem Sonnendach vor ihrem Haus.
Kluckens Halbtagsjob für das EU-Forschungsprojekt könnte auch ein Wissenschaftler an einer Universität machen. Aber sie bekommt dafür kein Geld. Und sie hat kein Examen gemacht, das ihre Kenntnisse belegt. Angelika Klucken, 57 Jahre alt, unterrichtete zuletzt Deutsch als Fremdsprache an einer Volkshochschule. Dass die Nervenkrankheit NBIA bei ihrem Sohn diagnostiziert wurde, hat sie zur Expertin dafür gemacht. Und zur Forscherin – wenn man die Definition aus dem Duden anlegt: Forschung als Arbeit an wissenschaftlichen Erkenntnissen.
Klucken ist Teil einer Bewegung, die viel Aufmerksamkeit bekommt, seit es einen neuen Begriff für sie gibt: Citizen Science. Bürgerwissenschaft.
Neben Betroffenen wie Angelika Klucken, die aus Mangel an Studien selbst die Initiative ergreifen, sind das auch Menschen, die die Leidenschaft zu Experten gemacht hat. Wie die Verkäuferin in Rente, die Pflanzenarten wiederentdeckt hat, die Botaniker hierzulande für längst ausgestorben hielten. Oder wie der Tüftler, der in seiner Freizeit über Sicherheitslücken in kabellosen Netzen forschte und mit dafür sorgte, dass WLAN-Boxen heute verschlüsselt werden.
Sie alle arbeiten ohne Hochschulabschluss, ohne Bezahlung. Und sie stellen in Frage, ob in Zeiten von Drittmitteldruck und Publikationszwängen wirklich die Universitäten der beste Ort sind, um sich frei dem Erkenntnisgewinn hinzugeben, so wie sich das einst Wilhelm von Humboldt vorstellte.
Als Sprecher der Bürgerwissenschaftler gilt ein Mann, der lange Universitätsprofessor war. Peter Finke lehrte Wissenschaftstheorie in Bielefeld, er ging aus Protest gegen die europaweite Normierung der Studiengänge. Eigentlich fühlte er sich schon lange mehr der Citizen-Science-Bewegung zugehörig. Vor Kurzem erschien sein Buch „Citizen Science. Das unterschätzte Wissen der Laien“.
Finke, 71 Jahre alt, trägt Schnauzbart und eine große, runde Brille. Langsam läuft er auf einem schmalen Pfad durch seinen Garten, vorbei an Tonschildern mit lateinischen Pflanzennamen und Bäumen mit Vogelhäusern. Auf einer Anhöhe bleibt er zwischen hüfthohen Gräsern stehen und deutet zu einer kleinen Luke im dunkelbraunen Holzdach seines alten Bauernhauses: Hier drin wohnt eine Schleiereule.
Schon vor langer Zeit hatte er hinter die Luke zwei Holzkisten gebaut, hängte eine Kamera hinein und hoffte, dass eine einzieht. Es sei schließlich der perfekte Ort für eine Schleiereule, sagt er. Endlich dann, nach fünf Jahren, kam die erste. „Ihre Schreie klingen zwar mehr wie Fauchen und Kreischen, aber ich höre das gerne“, sagt Peter Finke. Er strahlt. Auf einem kleinen grauen Monitor im Wohnzimmer des Hauses beobachtet er nun ab und zu, wie eine Eule dort tagsüber mit geschlossenen Augen sitzt und schläft.
In diesem Garten hat vor 35 Jahren Finkes Liebe zu den Bürgerwissenschaftlern begonnen. Damals kauften er und seine Frau das Haus und bauten das Grundstück zu einer Art privaten Naturforschungsstation um. „In der Uni konnte ich mein Interesse für die Natur nicht ausleben“, sagt er. Im Garten schon.
Weil sie neu in der Stadt waren, suchten die beiden nach Gleichgesinnten, nach Menschen, die ihnen die besten Orte verraten könnten, um Vögel zu beobachten. Also traten sie dem naturwissenschaftlichen Verein in Bielefeld bei.
Ein Busfahrer, der Atomkraftexperte wird
In Vereinen wie diesen lernte Peter Finke über die Jahre Menschen kennen, die ihn beeindruckten. Er erzählt von einem Busfahrer, der zu einem großen Atomkraftexperten wurde. Von einem Ornithologen, Wildpflanzenkartierer, Generationsforscher und Sprachtheoretiker.
Mittlerweile gibt es Laien, die sich Blut abzapfen, um ihre Gene zu entschlüsseln, oder die Mikroorganismen in ihrem Stuhl untersuchen. Die sich riesige Teleskope in ihren Garten stellen oder Raketen basteln, die sie zum Mond schießen wollen.
Wer ist Forscher und wer Spinner? Auch unter Bürgerwissenschaftlern gibt es Streit, was jemanden zum echten Citizen Scientist macht. Etwas, für das es keine Regeln gibt, ist schwer zu definieren. Peter Finke sieht jeden als Bürgerwissenschaftler, der außerhalb seines Berufes etwas herausfinden will und dafür kein Geld bekommt. Wie Irmgard Sonneborn, die Verkäuferin in Rente, die in einem Bielefelder Plattenbauviertel wohnt. Jahrelang hat Finke mit ihr auf Exkursionen des naturwissenschaftlichen Vereins über Pflanzenarten gefachsimpelt.
Sonneborn öffnet die Haustür ruckartig, lächelt ihren Vereinskollegen Peter Finke an und fängt sofort an zu sprechen. Sie eilt ins Wohnzimmer ihrer kleinen Wohnung und zieht Ordner um Ordner aus der Schrankwand. Auf jeder Seite eine gepresste Pflanze, daneben in Schreibschrift der lateinische Name der Pflanze, Pflanzenfamilie, deutscher Name, Fundort, Datum.
Wenn Irmgard Sonneborn steht und durch die Ordner blättert, fällt auf, wie klein sie ist, vielleicht 1,50 Meter. Die 92-Jährige mit der kurzen, grauen Dauerwelle, der dicken Hornbrille und dem Strickpullover hat früher als Verkäuferin gearbeitet. Nun schlägt sie schnell Blatt um Blatt auf, spricht von Mondrauten, weißem Thymian und kleinen Morcheln. Mit ihrem Mann ist sie im Ruhestand durch Argentinien, Ungarn, England gereist und versteckte auf dem Heimweg besondere Pflanzen in ihrer Schmutzwäsche, um sie nach Deutschland und in diese Ordner zu bringen.
Sie untersuchte, er zeichnete die Pflanzen. Vor eineinhalb Jahren starb ihr Mann, seine grazilen Skizzen hängen noch immer überall in der Wohnung an den Wänden. „Wir haben uns ganz schön den Wind um die Nase wehen lassen“, sagt sie. Die Rente sei ihre schönste Zeit gewesen.
Heute lagern in der Wohnung ungefähr 20.000 Pflanzen und über 3.000 Pilze. In den Ordnern der Schrankwände, in kleinen Plastikboxen in Regalen, auf Tischen, auf Fensterbrettern.
Sonneborn liest am Verschwinden von Pflanzen und Pilzen in ihrer Region direkt den Einfluss der Klimaerwärmung ab, sie erhielt für ihre Forschung das Bundesverdienstkreuz, verschiedene Umweltpreise, Auszeichnungen, sie beriet 30 Jahre lang Krankenhäuser bei Pilzvergiftungen, nach ihrem Tod geht ihre Sammlung an das Museum der Stadt Münster.
Irmgard Sonneborn ist eine große, eine erfolgreiche Naturforscherin. Und doch guckt sie, wenn sie spricht, immer wieder unsicher zu dem Akademiker Peter Finke, als wollte sie fragen: Mach ich das richtig? Ist es okay, was ich sage? Finke lächelt sie beruhigend an.
Die Medizinexpertin Angelika Klucken, die sich nicht Forscherin nennen lassen will, und die Pflanzenkennerin Irmgard Sonneborn, die sich nach dem Professor umschaut, kann man bescheiden nennen. Man könnte aber auch sagen: Sie haben ihr Selbstbewusstsein noch nicht gefunden.
Obwohl das, was sie tun, Tradition hat. Schon der Mönch Gregor Mendel, der in seinem Klostergarten auf die Grundlagen der Vererbungslehre stieß, und der Theologe Charles Darwin, der sich die Evolutionstheorie ausdachte, waren im Prinzip Citizen Scientists. Doch seit dieser neue Begriff im Raum steht, fallen die Bürgerwissenschaftler auch anderen auf – Politikern zum Beispiel.
Das Bundesministerium für Bildung und Forschung steckte vor Kurzem 782.000 Euro in Citizen-Science-Projekte und eine Internetseite zum Thema. Wer welches Geld erhält, entscheiden: die Friedrich-Schiller-Universität Jena, die Freie Universität Berlin, das Museum für Naturkunde in Berlin, verschiedene Leibniz-Institute und so weiter – Funktionäre der Profiwissenschaft also.
Peter Finke ärgert das. Einerseits werde nur ein kleiner Teil der Bewegung überhaupt gefördert – der naturwissenschaftliche. Außerdem werde kein Bürgerwissenschaftler eingeladen, wenn es darum geht zu diskutieren, wohin das Geld fließt. „Die Arroganz bleibt erhalten“, sagt Finke. Viele Projekte, die gerade entstehen, sind solche, bei denen die Bürger ein wenig mitmachen können. Mücken einsammeln und den Forschern zur Auswertung schicken, Wildschweine und Igel zählen, eine App auf dem Smartphone installieren, die Daten ins Forschungszentrum schickt. „Die Bürgerwissenschaftler werden wie wissenschaftliche Instrumente behandelt, als Datensammler“, sagt Finke. Die Profis behalten die Kontrolle über Themen und Interpretation.
Finke meint: Finanziell sollte man Citizen Science nur sehr zurückhaltend fördern, vielleicht Jahrbücher finanzieren, aber auf keinen Fall Gehälter zahlen. Mit zu viel Geld nehme man den Bürgerwissenschaftlern ihre Freiheit. Dann könnte das Gleiche passieren, was aus Finkes Sicht an den Universitäten über die Jahre passiert ist.
Profiforscher arbeiten oft in Feldern, die gerade wirtschaftliche Verwertbarkeit versprechen. Die Agenda der wichtigen Fachzeitschriften gibt vor, mit welchen Themen man eher Karriere machen kann und mit welchen weniger. Politiker vergeben Förderungen in Bereichen, von denen sie sich Prestige erhoffen.
Finke glaubt, dass es die Stärke von Menschen wie Irmgard Sonneborn ist, dass sie nicht von Publikationsdruck und dem Kampf um Posten gesteuert werden. Und dass sie die ausgestorben geglaubte Pflanze finden, weil sie sich länger umschauen, als der Botaniker es sich leisten kann.
Aber das Verhältnis von Freiheit und Geld bleibt ein Dilemma. Viele Citizen Scientists sind schlecht ausgestattet oder finanzieren privat Erkenntnisse, von denen später viele Menschen profitieren. Irmgard Sonneborn und ihr Mann fuhren bei ihren Reisen über die Jahre zwei Autos kaputt. Und relevante Forschung kostet Geld. Das weiß die Bürgerwissenschaftlerin Angelika Klucken besser als viele andere.
Vor 13 Jahren hörten Angelika Klucken und ihr Mann zum ersten Mal den Namen der Krankheit ihres damals elfjährigen Sohnes. Es hatte Jahre gedauert, bis ein Arzt Dietmars die immer häufigeren Stürze, die unkoordinierten Bewegungen seiner Beine und seine abgehakte Sprechweise deuten konnte: NBIA, eine Krankheit, bei der sich Eisen im Gehirn ablagert. Bald nach der Diagnose saß Dietmar im Rollstuhl.
Es sei eine Krankheit, für die es keine erprobte Therapie gibt, sagte der Arzt, keine Medikamente, die sie heilen kann. Dietmar werde daran sterben.
„Man bricht zusammen, wenn man so etwas hört“, sagt Angelika Klucken. Eine Weile wechselten sie und ihr Mann sich ab: Einer sorgte dafür, dass das Leben normal weitergeht, der andere zog sich zurück und weinte. Doch zu der vernichtenden Diagnose sagte der Arzt auch noch einen Satz, der in Angelika Klucken schon bald den Widerstandsgeist auslöste: Die Erkrankung ist so selten, da wird wahrscheinlich gar nicht geforscht.
„Dass etwas völlig aussichtslos sein soll, das hör ich gar nicht gerne“, sagt Angelika Klucken. In ihr Haus bauten sie eine gemauerte Rampe ein, die zur Eingangstür führt. Und sie richteten auf dem Dachboden das kleine Büro ein, von dem aus Angelika Klucken, ihr Mann und eine Halbtagsangestellte alles tun, was sie können, um NBIA eines Tages zu besiegen. Nur die Angestellte wird aus den Projektgeldern bezahlt; die Familie lebt von dem Gehalt, das Angelika Kluckens Mann als Geschäftsführer in einem Verkehrsunternehmen verdient.
Für Angelika Klucken war das Forschen am Anfang vor allem Verarbeitung. „Ich habe mich in die Fachliteratur gerettet“, sagt sie. Sie las Texte einer US-amerikanischen Selbsthilfegruppe, bald auch die von wissenschaftlichen Publikationsplattformen.
Angelika Klucken lernte, dass im Körper ihres Sohnes das Coenzym A fehlt und dass in Deutschland rund 50 Menschen mit NBIA leben. Zu Hause installierten sie Internet, für Kluckens Recherche, sie fand eine einzige Forscherin, die sich mit NBIA befasst, in Portland, Oregon. Klucken las von einer Konferenz mit betroffenen Familien, Ärzten und Forschern in den USA und flog hin.
Können die Profiforscher einfach so weitermachen?
2002 gründeten Angelika Klucken und ihr Mann den Verein Hoffnungsbaum, um die Erforschung und Behandlung von NBIA zu fördern. Sie sammelten Spendengelder, gaben sie 2004 in ein Projekt zur Erforschung der Rolle des Eisens im Gehirn, sie gruben sich in die scheinbar undurchdringlichen Formalitäten der Forschungsanträge ein, 2011 startete das Millionen-Projekt Tircon, für das 13 Projektpartner aus acht Ländern zusammenarbeiten.
Irgendwann wurde Angelika Klucken gebeten, einen Artikel über NBIA für eine Ärztezeitschrift zu verfassen. Sie diskutierte mit Dietmars Ärzten, setzte durch, dass neue Behandlungen, von denen sie erfuhr, bei ihm versucht wurden.
Manches davon lief sehr erfolgreich, wie die tiefe Hirnstimulation. Noch heute geben Elektroden ständig elektrische Impulse in Dietmars Gehirn ab, sie lösen seine verkrampften Muskeln etwas. Manches brachte auch so gut wie nichts, wie diese Kapseln, in denen die Apotheker für sie Vitamin B5 abfüllten.
Können solche Versuche gutgehen? Ihnen bliebe bei vielem keine andere Wahl, sagt Angelika Klucken. „Unser Sohn trifft solche Entscheidungen immer mit. Dietmar hat einen guten Instinkt dafür, was er machen möchte und was nicht.“
Klucken trifft sich für das EU-Projekt mit Forschern, gemeinsam überlegen sie Strategien. Sie vergeben Stipendien an Wissenschaftler. Langfristig sollen medizinische Zentren für NBIA entstehen, in München, Mailand, Warschau, Newcastle, Oakland.
Und vielleicht entstehen so irgendwann Medikamente, die den Ausbruch von NBIA verhindern, die die Krankheit behandelbar machen. Vielleicht wird Dietmar Klucken noch davon profitieren. Vielleicht werden es andere Menschen sein.
Der Autor Peter Finke arbeitet schon an seinem nächsten Buch zum Thema. In „Bürgerwissenschaft: Abschied vom Elfenbeinturm?“, das 2015 erscheinen soll, geht es darum, welche Konsequenzen sich für die Profiwissenschaften daraus ergeben, dass Citizen Science so viel Aufmerksamkeit bekommt.
Finkes These: Die Leute an den Hochschulen können Bürgerwissenschaftler nicht mehr ignorieren. Nicht in einer Zeit, in der ein fünfzehnjähriger französischer Gymnasiast neue Erkenntnisse über die Entstehungen von Galaxien errechnet und es damit als Koautor ins renommierte Wissenschaftsmagazin Nature geschafft hat.
Die Laien würden zur Konkurrenz, besonders bei relevanten Entwicklungen, deren Erforschung die Universitäten zu lange verschlafen haben. Wie dem Internet.
Euro vergibt das Bundesforschungsministerium bis 2016 an Citizen-Science-Projekte Quelle: Bundesforschungsministerium
47
Prozent der Deutschen finden, dass die Öffentlichkeit zu wenig in Entscheidungen über Wissenschaft einbezogen wird Quelle: Wissenschaftsbarometer 2014
73
Millionen Euro bekam die Technische Hochschule in Aachen 2010 an Drittmitteln aus der Wirtschaft Quelle: Statistisches Bundesamt
30
Prozent der Deutschen hätten Interesse, an einem Forschungs-projekt mitzuarbeiten Quelle: Wissenschaftsbarometer 2014
24.925
Personen beteiligen sich mit der App „Verlust der Nacht“ an der weltweiten Vermessung der Himmelshelligkeit
Quelle: Verlust der Nacht
43.826
Professorinnen und Professoren lehren und forschen hauptberuflich in Deutschland Quelle: Statistisches Bundesamt
Peter Hecko streckt den Arm zur Begrüßung aus. Er hält in der Hand ein Tablet, die andere drückt das Smartphone gegen sein Ohr, er telefoniert. Irgendwelche Termine. Er telefoniert auch noch, als er das Restaurant am Berliner Spreeufer betritt, das er beim Bootfahren entdeckt hat. Er ist erst vor Kurzem nach Berlin gezogen.
Hecko war 18 Jahre alt, als sich das schnurlose Internet in Deutschland langsam verbreitete. Er hatte schon lange vorher, als kleiner Junge, an Computern herumgetüftelt. Doch das mit der WLAN-Technologie faszinierte ihn besonders.
Er kaufte einen Laptop, einen Router, las Fachliteratur und merkte schon bald, dass er bei jedem, der in seiner Nähe ein WLAN-Netz aufbaute, Mails und geöffnete Internetseiten einfach so mitlesen könnte. „Damals gab es ohnehin kaum WLAN-Netze, und wenn, waren sie nur sehr selten verschlüsselt“, sagt Hecko.
Er begann, mit seinem Laptop durch die Straßen seines Mannheimer Viertels zu laufen und immer wieder zu scannen: Hier hat noch einer ein Netz, hier auch, und da auch.
Diese Recherche wurde immer umfangreicher: Irgendwann lief Hecko nicht mehr, er fuhr mit Antennen auf dem Autodach umher, um Netze zu scannen. Jungs, die er über das Internet fand, kamen dazu, sie fuhren abends und am Wochenende mit Hecko durch die Gegend, zeichneten in Karten ein, wo es Netze gab, ob sie verschlüsselt waren oder nicht, mit welcher Technologie, erstellten Statistiken darüber, wie viel Prozent sicher sind, und wie sich das über Jahre hinweg veränderte.
„Wir haben viel über Technologien, Datensicherheit und die gesellschaftliche Entwicklung von einem Medium gelernt“, sagt er. Aber es sei auch ein bisschen ein Schnitzeljagdgefühl dabei gewesen.
Hacker-Club statt Elite-Universität
Irgendwann aber fanden sie die vielen ungeschützten WLAN-Netze zunehmend beunruhigend. „Ich dachte mir: Wenn der sein Internet nicht verschlüsselt, müsste ich eigentlich klingeln und ihm sagen: Ich könnte ihre Mails mitlesen, wollen Sie das?“, sagt Peter Hecko. Doch sie fürchteten, dass sie Anzeigen bekommen könnten und entschieden sich, ihre Statistiken im Internet öffentlich zu machen.
Später gingen Peter Hecko und seine Kollegen auf Fachtagungen, sie zeigten ihre Ergebnisse, diskutierten mit anderen Computerexperten über Sicherheit. Journalisten schrieben über sie und so wuchs der Druck auf die Hersteller von WLAN-Boxen. Sie begannen ihre Geräte zu verschlüsseln.
Ein Semester hat Hecko Informatik studiert. Doch dann saß er einmal in einer Vorlesung, hörte von Optimierungsalgorithmen und hoher Mathematik und hatte das Gefühl, das alles bringe ihn nirgendwo hin. Er brach ab.
Weil die Eltern ihn drängten, einen Abschluss zu machen, quälte Peter Hecko sich noch drei Jahre lang durch eine schulische Berufsausbildung zum staatlich geprüften IT-Systemintegrator. Er verdient sein Geld damit, dass er sich in einem großen Handelsunternehmen darum kümmert, dass das Computersystem nicht ständig abstürzt.
Irgendwann in der Zeit seiner Ausbildung schlossen er und seine Mannheimer Freunde sich dem Chaos Computer Club an.
„Der Chaos Computer Club“, sagt Hecko, „galt für uns immer als Elite-Club, in dem nur die Besten sind.“ Es war nicht irgendeine Top-Universität, von der sie träumten. Und es sind nicht die Professoren, die sich in Deutschland als Experten in Sachen Internet und Datensicherheit hervortun. Das Thema wird längst abseits von Hochschulen und Doktortiteln verhandelt.
Mit seinen Kollegen vom Chaos Computer Club geht Hecko auch in Schulen. Zwei, drei Unterrichtsstunden lang sprechen sie darüber, wie das Internet im Kern funktioniert, warum es Geld kostet, das Netz zu betreiben, und wie man das Ganze, oft ohne es zu merken, mit seinen persönlichen Daten bezahlt. Das Konzept gibt es mittlerweile deutschlandweit: Hacker forschen nicht nur, sondern lehren auch.
Im angloamerikanischen Raum, aus dem der Begriff Citizen Science stammt, werden wissenschaftliche Institutionen an ihrem „Impact“ gemessen, ihrem Einfluss, an konkreten Auswirkungen ihrer Arbeit.
„Mittlerweile bekommt man keine unverschlüsselte WLAN-Box mehr“, sagt Peter Hecko. Er ist davon überzeugt, dass er und seine Freunde ihren Teil dazu beigetragen haben.
In ihrem Büro in Velbert sagt Angelika Klucken: „Seit wir aktiv sind, ist messbar mehr Forschung im Bereich NBIA passiert.“ Sie deutet auf eine Zeitleiste auf dem Blatt vor ihr, die sie auf Konferenzen zeigt. Eine Forscherin muss ihre Aussagen schließlich belegen.
■ Maria Rossbauer, 33, sonntaz-Autorin, hält ihr Neurobiologiestudium heute für relativ überflüssig
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